Es ist der 05. Dezember 1935, wir befinden uns in der Schweiz, wo Thomas Mann seine ersten Exiljahre verbringt. Europa steht vor einem schrecklichen Durchbruch niedrigster politischer Instinkte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten wirbelt auch das Leben Thomas Manns durcheinander. Er verlässt Deutschland 1933, kann sich aber einige Jahre noch nicht endgültig von seiner Heimat lösen. Er bleibt sozusagen in der Nachbarschaft und beobachtet von dort die immer düstereren Vorzeichen der kommenden Katastrophe.
Es ist eine sehr gespaltene Zeit für ihn. Während seine geistige Heimat immer mehr im braunen Sumpf versinkt, gelingt ihm der internationale Durchbruch. Ruhm und Anerkennung werden ihm zuteil, sein 60. Geburtstag wild weltweit gefeiert und er hält vielbeachtete Vorträge in Europa und den USA. Seine anfängliche Verunsicherung als Exilant weicht mit der Zeit einem selbstbewussten Auftreten als Europas intellektuelles Gewissen. Er bezieht immer öfter öffentlich Stellung gegen Nazideutschland. 1936 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Er erhält einen tschechoslowakischen Pass und emigriert einige Jahre später in die USA.
Aber 1935 sind wir noch nicht soweit. In diesem dritten Jahr der Verbannung sucht er noch nach seiner politischen Stimme. Literarisch ist er sehr produktiv. Er arbeitet an Joseph und seine Brüder, dem Werk, das für mich den Inbegriff literarischer Erzählkunst darstellt.
Der Text seiner Tagebücher erweist sich dagegen als erstaunlich „unliterarisch“ und ist dem sprachlichen Niveau seiner Werke bei Weitem nicht gewachsen. Kritiker haben die Tagebücher oft als gefühl- und teilnahmslos bezeichnet. Der große Schriftsteller lässt in ihnen so Einiges an menschlichen Schwächen erkennen. Er ist seiner Umwelt gegenüber extrem kritisch, äußert sich oft abfällig über Orte, Menschen und Kunstwerke. Die penible Beschreibung und Katalogisierung seiner zahlreichen körperlichen Beschwerden und kleiner Inkonvenienzen lässt ihn recht selbstverliebt, oft sogar narzisstisch erscheinen.
Enorm spannend ist es jedoch, durch seine täglichen Aufzeichnungen, die menschlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe seiner Werke kennenlernen zu können. Ergreifend ist auch, wie natürlich er zu seiner Homosexualität und seinen nie ausgelebten pädophilen Neigungen steht.
Als Familienvater gibt er zwar ein zwiespältiges Bild ab, aber sein Mitfiebern mit seinen begabten Kindern und seine Akzeptanz für ihre gar nicht so seltenen Exzesse lässt ihn wieder sympathischer erscheinen. So auch am 05. Dezember 1935…
Basel, 05.12.1935, Hotel 3 Könige
Heute in Küsnacht zeitig auf und längeren Brief an Lion über sein Buch rasch geschrieben. Etwas gepackt und nach 11 Uhr über Zürich (Post) und Baden hierher gefahren. Schneegestöber. Die Straßen anfangs gut, auf der Höhe des kleinen Passes vor dem Abstieg in die Rheinebene sehr unangenehm glatt. Man fror auch etwas, und ich verzichtete darauf, die Strecke nach Solothurn und Bern im Wagen zurückzulegen. – Ankunft hier nach ½ 2. Begrüßung mit Eri. Wermut. Mittagessen, sehr gut, zu vieren mit der Giehse und A.M. Schwarzenbach. Nachher Kaffee in der Halle. – Nicht wohl, Herzklopfen, schlecht geruht. – Um 6 mi K. etwas in die Stadt gegangen. Thee und Sandwiches in der Halle mit den 3 Damen, zu denen ich noch eine 4., aus Ehrwald, gesellte. Feststellung zunehmender Gemeinheit der Menschen, oder zunehmender Zügellosigkeit dieser Gemeinheit.- Rasiert. In Anne-Maries Wagen (unbequem) zum Gambrinus. Aufführung der „Pfeffermühle“ vor einem beifallsfreudigen Publikum. Die gewohnte Mischung von Ergriffenheit und Beklommenheit des „Vaters“. Die Giehse als „Prophetin“ meisterhaft. Eri als geistfreundlicher Student, als „Mutter“. In der Pause bei den Künstlern. Nach Schluß fatale Begegnung mit dem ausgewiesenen und leicht erpresserischen Schupo, der nach einem sexuellen Abenteuer mit Klaus verhaftet worden.- Mit Anne-Marie ins Hotel zurück. In Erikas Zimmer das Fest: Champagner und Caviar. Späte Vorlesung eines Teils vom Kapitel „Das 1. Jahr“, den man sehr schön fand. Der Champagner tat mir wohl. Sehr spät zur Ruhe, erkältet.
Das Zitat entstammt folgender Ausgabe: Thomas Mann; Tagebücher 1935-1936; Herausgegeben von Peter de Mendelssohn; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2003
„Feststellung zunehmender Gemeinheit der Menschen, oder zunehmender Zügellosigkeit dieser Gemeinheit.“ Assoziation: knapp drei Monate zuvor wurden beim Nürnberger Reichsparteitag am 15. September 1935 die „Nürnberger Gesetze“ erlassen, die formal-legale Ausgrenzung der Juden und Nicht-Arier. Die Folgen davon waren wohl auch in der Zürcher Exilgemeinde spürbar.
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Absolut…
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Oh, noch ein Manniac…
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Ja, ein bekennender Manniac!
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Dann haben wir zumindest eine Sache gemeinsam.
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