Es ist der 13. Februar 1913. Lou Andreas-Salomé hört in Wien das Kolleg „Einzelne Kapitel aus der Lehre von der Psychoanalyse“ und ist, als einzige Frau, an den abendlichen Diskussionen des internen Kreises der Psychoanalytiker zugelassen. Sie hält ihre Erfahrungen in einem kleinen rotledernen Kollegbuch fest, das den Namen „In der Schule bei Freud“ trägt.
Lou Andreas-Salomé ist zu dieser Zeit bereits über 50: Sie verfügt über einen messerscharfen Intellekt, ist außerordentlich gebildet, hat ihre innere und äußere Freiheit errungen, sodass sie sich, trotz hingebungsvollem Studium der Psychoanalyse, von dieser nicht vereinnahmen lässt. Sie nimmt zu Beginn sogar an freudgegnerischen Diskussionen um Adler Teil und schafft es, einige originelle Facetten der Psychoanalyse aufzuzeigen.
Dass es nicht unbedingt einfach war, Freud gegenüber Eigenständigkeit zu bewahren, zeigen ihre Aufzeichnungen. So auch jene vom 13. Februar, in denen sie nicht nur den erfolglosen Ansatz Tausks, Putnam zu kritisieren, beschreibt, sondern auch Freuds doch recht autoritäre Reaktion darauf. Und selbst wenn diese von Lou Andreas-Salomé sehr behutsam und verständnisvoll dargestellt wird, schwingt doch eine gewisse Kritik ob der allzu harten Hand mit. Dies wird am Ende des Tagebucheintrages mit einer kleinen Anekdote abgefedert, die dann doch auf eine gewisse Selbstkritik, oder zumindest Selbstironie seitens Freud schließen lässt.
Oder ist das vielleicht nur Wunschdenken von mir?
13. Februar 1913
Am Sonntag (9. Februar), nach meinem dritten Besuch bei Freud, und am Montag, auch noch nachdem ich spät von Marie Ebner-Eschenbach heimgekommen war, arbeitete Tausk bei mir an seiner Putnam-Kritik und an seinem zweiten „Angst“-Vortrag für den Kurs.
Am Mittwoch, am Kritischen-Referierabend, platzte von Freud abgelehnt die Putnam-Kritik unter Trommeln und Trompeten; Freud entzog Tausk das Wort, und dies ward ein Signal, das die andern nicht überhörten. Tausks Haltung gefiel mir…
Am Donnerstag war ich wiederum bei Freud, zum Nachtmahl. Schon vorher, gleich im Wohnzimmer, brachte er das Gespräch auf Tausk und wir sprachen viel darüber; später nochmals in seinem Zimmer; erst gegen 11/2 brachte er mich nach Hause.
Freud handelt aus bester Überzeugung, wenn er so scharf gegen Tausk auftritt, daran ist nicht zu zweifeln. Aber neben diesem „Psychoanalytischen“ ist es ja auch klar, daß alle Selbständigkeit neben Freud, besonders eine aggressiv temperamentvolle, ihn in seinem forscherischen, also edelsten Egoismus unwillkürlich hetzt und schädigt, zu verfrühten Auseinandersetzungen zwingt etc. Der Wert, den ein selbständiger Kopf für die Sache hat, weist sich erst am Zukünftigen auf, und das führt durch Kämpfe in der Gegenwart, die wahrscheinlich nicht vermeidlich sind. Daß Freud es als Störung empfindet und sich tief nach jener Ruhe stiller Forschung sehnt, die er bis 1905 – bis zur Gründung der „Schule“ – genoß, ist sicher, und wer sollte nicht wünschen, er dürfe sie immer haben!
Ich verstehe deshalb auch wohl, daß Menschen von Intelligenz und Tüchtigkeit wie Otto Rank, der ganz nur Sohn ist, für Freud das weit Wünschenswertere vorstellen. Wenn er von Rank sagt „Warum kann es diesen reizenden Menschen nicht sechsmal anstatt einmal in unserer Vereinigung geben?“, so ist aber auch mit diesem Wunsch nach dem halben Dutzend die Einzigkeit des Betreffenden in Frage gestellt. Und dennoch macht eben dies Freud nur ruhig bezüglich einer drohenden „Ambivalenz“; schrieb er an einem der Referierabende, während Rank über Königsmörder vortrug, mir doch auf sein Papier folgende Bemerkung auf: „R. erledigt den negativen Teil seiner Sohnesliebe durch dies Interesse für die Psychologie der Königsmörder; darum ist er so anhänglich.“
In meinem Throwbackmonday-Beitrag vom 02. Jänner 2017 habe ich einen Brief von Freud an seine Tochter Anna beleuchtet. Am 26. Dezember 2016 ging es wiederum um einen Brief von Anna Freud an Lou Andreas-Salomé. Mit dem heutigen Throwbackmonday, dem Tagebucheintrag Lou Andreas-Salomés über Sigmund Freud, schließt sich der Kreis um den Vater der Psychoanalyse.
Das Zitat entstammt folgender Ausgabe: Lou Andreas-Salomé; In der Schule bei Freud, Tagebuch eines Jahres 1912/1913; Max Niehans Verlag; 1958, Zürich