RIP Tilikum

Es war einmal ein kleiner Orcabulle. Er hatte keinen Namen, dafür jedoch Freiheit und eine Familie. Beider wurde er beraubt und erhielt dafür, als Austausch, den Namen „Tilikum“, der, heuchlerisch genug, soviel wie Freund bedeutet. Fortan vegetierte er als Showtier vor sich hin, in seiner Bewegungsfreiheit drastisch eingeschränkt, von dominanten Weibchen regelmäßig drangsaliert – und bereicherte Unternehmen wie Sealand of the Pacific und SeaWorld.

Orca-Transport

Wahrscheinlich hätten sehr wenige von seinem langen Leidensweg Notiz genommen, hätte er, im Laufe seiner 34-jährigen Gefangenschaft, nicht gleich drei Todesfälle zu verantworten gehabt. Doch der dritte Fall (Tilikum tötete am 24. Februar 2010 seine Trainerin, Dawn Brancheau) schlug große Wellen. Der 2013 veröffentlichte Dokumentarfilm „Blackfish“ beleuchtete zwar sehr subjektiv, aber mit zwingender Logik, warum die furchtbaren Lebensbedingungen gefangen gehaltener Orcas fast zwangsläufig zu solch tragischen Vorfällen führen müssen.

Ein breiter gesellschaftlicher Diskurs entstand. SeaWorld konnte die Öffentlichkeit nicht wirklich überzeugen, dass gefangen gehaltene und zur Vorführung von Zirkustricks abgerichtete Orcas einen sinnvollen Beitrag zum Verständnis und zur Erhaltung dieser wunderbaren Tierart leisten. Der angeblich aufklärerische Betrieb von Wasserparks wurde als das entlarvt, was er seinem innersten Wesen nach ist: skrupellose Geschäftemacherei ohne Rücksicht auf tierisches Leid. Die Besucherzahlen gingen zurück, der Aktienwert des Unternehmens fiel drastisch. Für Tilikum kam jedoch das öffentliche Bewusstsein zu spät. Er verendete im Jänner 2017.

Hat man jedoch den sehr aufwühlenden Film „Blackfish“ gesehen, kann man nicht umhin, immer mehr über die Orcas, diese wunderbaren, hochintelligenten Lebewesen erfahren zu wollen.

Orcas

Über ihre intensiven Familienbande in streng matriarchalisch organisierten Sippen. In diesen bleiben die männlichen Nachkommen ein Leben lang an der Seite ihrer Mutter, übernehmen Babysitterdienste für junge Geschwister und legen – aus menschlicher Sicht etwas skurril anmutend – immer wieder Übungsstunden mit „Grannys“ ein, als Vorbereitung auf ihre spätere Männerrolle. Die Familien meistern die Herausforderungen des doch recht rauen Hochseedaseins in engem Verbund: gemeinsam wird gejagt, es gibt gegenseitige Unterstützung bei der Nachwuchs- und Krankenpflege, eine gemeinsame Sprache und Gewohnheiten, die sehr nahe an das Konzept „Kultur“ heranreichen. Manche Forscher behaupten sogar, dass Orcas ein eigenes, bei den Menschen weit weniger ausgeprägtes Hirnareal besitzen, welches für familiäre Beziehungen zuständig ist.

Man kann sich nun leicht vorstellen, welche Auswirkungen es auf einzelne Tiere hat, wenn sie gewaltsam aus dem Familienverband herausgerissen werden. Hoch traumatisiert und orientierungslos finden sie sich in engen, oft viel zu warmen und lauten Becken wieder. Sie sind weit weg von ihrer gewohnten Umgebung, ohne die Möglichkeit, sich ausreichend zu bewegen oder Aggressionen anderer stressgeplagter Orcas aus dem Weg gehen zu können. In der matriarchalisch organisierten Gesellschaft verlieren alleinstehende Männer jeglichen Status. Die großen, mächtigen Bullen werden von den kleineren und daher wendigeren Weibchen erbarmungslos zusammengebissen.

Ohne die Reize ihrer natürlichen Umgebung vergehen die „dienstfreien“ Tage der großen Schwertwale in grenzenloser Langeweile, was sich bald in sehr schlechten Zähnen niederschlägt – die Orcas kauen unentwegt an den Beckenwänden. Die schlechten Zähne werden in einem qualvollen Prozess ausgebohrt und müssen täglich gespült werden, trotz dieser Maßnahmen bleiben sie ein ständiges Einfallstor für Infektionen.

Orca-Kunststücke

In ihren kargen Behältnissen sind die Tiere auf Futter aus menschlicher Hand angewiesen. Und bald werden sie, durch geschickt portionierte Belohnungen und immer wieder auch Bestrafungen im Sinne von Futterentzug, zur Ausführung von immer komplizierteren Tricks angehalten. Man kann nicht umhin, so angewidert und erschüttert man auch ist, eine gewisse negative Faszination dabei zu empfinden, mit welch ausgeklügelten Methoden diese prächtigen Lebewesen dazu gebracht werden, präzise berechnete, hochkomplexe Bewegungsfolgen auszuführen und diese auf menschliche Interaktion abzustimmen. Die Kür dieser Trainingsleistung ist die fast schon diabolisch anmutende Fertigkeit, mit der Orcabullen dazu gebracht werden, Samen zu spenden.

Auf der anderen Seite dieser Leistungen stehen natürlich die Trainer – oft in sich zerrissene Persönlichkeiten, die eine tiefe Verbundenheit mit den Tieren empfinden und ein ehrliches Engagement an den Tag legen, diesen ihre Gefangenschaft zu erleichtern; Partner, Therapeut, Bezugsperson für sie zu sein.

John-Hargrove

John Hargrove

Ihre Laufbahn beginnt meistens im Banne der glamourösen Kunststücke, die sie eines Tages selber mit diesen 5 Tonnen schweren Tieren ausführen möchten. Für ein überraschend geringes Gehalt steigen sie ein. Sie beginnen mit primitivsten Putzdiensten. Sind sie ausdauernd und opferbereit genug, so können sie über die Tierpflege zum Trainer aufsteigen. Meistens bezahlen Sie einen sehr hohen Preis für ihre Laufbahn. Der permanente Aufenthalt im (für Menschen) viel zu kalten Wasser, der viel zu hohe Wasserdruck, die Lautstärke des brausenden Wassers bei Loopings, zahlreiche Unfälle sowie kleinere und größere Attacken der traumatisierten Tiere fordern einen sehr hohen körperlichen Tribut. Und viele erkennen erst mit der Zeit, was die Gefangenschaft für die Orcas bedeutet.

Die Tiere entwickeln in den meisten Fällen ein veritables Stockholm Syndrom. Ohne Familie und sinnvolle Beschäftigung sind für sie doch die Trainer und die Übungsstunden die einzige Möglichkeit, soziale Beziehungen aufzubauen. Diese sind jedoch recht anfällig. Sind die Tiere besonders gereizt, krank oder gestresst, so ist es naheliegend, dass die Versuchung für sie groß wird, sich an den Trainern abzureagieren. Sie wechseln auf die „dunkle Seite“ – mal nur für einige Minuten, gelegentlich jedoch mit fataler Endgültigkeit. Hier schließt sich der Keis.

Dawn-Brancheau-Tilikum

Dawn Brancheau

SeaWorld hat lange geleugnet, dass Tierattacken zum Alltag des Parks gehören würden. Mittlerweile wurden jedoch über hundert Zwischenfälle zusammengetragen. Die Behörden haben nach langwierigen Kämpfen einen besseren Schutz für Trainer, sprich ein Verbot unmittelbarer Interaktion zwischen Mensch und Schwertwal durchgesetzt. Kein Surfen mehr auf den Rücken der Orcas, keine Loops von ihren Köpfen, keine Kunststücke im Wasser.

Ebenso wurde die Weiterführung des Orca Zuchtprogrammes erwirkt. Aber eine Entlassung der Tiere in die freie Wildbahn (oder zumindest in geschützte Wasserzonen) konnte nicht durchgesetzt werden.

Ist einmal das Interesse an Schwertwalen geweckt, so möchte man möglichst viel über sie lesen.

Die deutschsprachige Orca-Literatur ist zwar eher auf Kinderbücher beschränkt, bedingt durch den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs gibt es jedoch zahlreiche englischsprachige Bücher, die sich dem Thema widmen.

Orca-Bücher

„Death at SeaWorld“ von David Kirby ist ein sehr ausführliches, um Objektivität bemühtes Werk, welches versucht, jede Facette der Orcahaltung – biologische, soziale, medizinische, finanzielle, moralische, rechtliche Aspekte – gleichermaßen vorzustellen. Neben detailreichen Informationen über die Schwertwale wird auch sehr viel Raum dem rechtlichen Kampf um das Verbot ihrer entwürdigenden, art-ungerechten Haltung gewidmet. Ein Genuss für jene Leser, die sich wirklich profund informieren möchten – und dafür zahlreiche Längen in Kauf nehmen.

„Beneath the Surface“ von John Hargrove (einem ehemaligen SeaWorld Trainer) ist die Buchform von „Blackfish“. Packend, erschütternd, sehr persönlich und spannend bis zur letzten Seite. Objektivität steht hier nicht im Vordergrund, das persönliche Zeugnis verleiht dem Buch aber einen besonderen Wert. Umfassende Einblicke sind auch hier garantiert.

„Of Orcas and Men“ von Dawid Neiwert ist wiederum eher ruhig angelegt, mit sehr viel kulturellem Hintergrund. Eine schöne Abrundung, wenn man schon sehr viel gelesen hat, aber noch nicht vom Thema ablassen kann.

Hier endet meine Reise mit und um diese faszinierenden Lebewesen. Es bleibt nur zu hoffen, dass eines Tages wirklich die Zeit kommen wird, in der man sagen wird „was für barbarische Zeiten waren es, in denen man diese majestätischen Tiere gefangen halten durfte“ (ein Zitat aus „Blackfisch“). Bis dahin – RIP Tilikum.

2 Gedanken zu “RIP Tilikum

  1. Das ist tatsächlich ein (weiteres) sehr trauriges Kapitel in der endlosen Mensch-Tier Saga, liebe Andrea. Glücklicherweise habe ich die Orcas nie in Gefangenschaft gesehen, doch einige Male in freier Natur, und das war sehr beeindruckend.
    Ich schließe mich dem in dem Zitat und Deinem Post ausgedrückten Wunsch an.
    Herzliche Grüße,
    Tanja

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    • Liebe Tanja, das steht noch auf der Liste meiner nicht erfüllten Träume, Orcas einmal in freier Wildbahn zu beobachten. Ich bin sehr froh, dass ich noch nie in einem Wasserpark war – die Kunststücke sind, soweit ich es anhand von „Blackfish“ beurteilen kann, wirklich atemberaubend, und als Kind hätte ich wahrscheinlich nicht nachvollziehen können, welches Ausmaß an Tier- und Trainerleid dahintersteckt. So bin ich froh, dass ich keinen Beitrag dazu geleistet habe. Liebe Grüße, Andrea

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