27. Februar – Throwbackmonday mit Jean-Paul Sartre

Es ist der 27. Februar 1940. Sartre ist vor 5 Monaten zur Armee eingerückt und in dieser absurd-passiven Phase des Krieges passiert in seinem Leben nicht viel. Es ist eine Zeit des Wartens mit viel Leerlauf, die er durch Lektüre, durch die Arbeit an seinem Roman „Zeit der Reife“ und durch exzessive Kommunikation mit Simone de Beauvoir zu füllen sucht.

An diesem 27. Februar ist seine Laune etwas gedrückt, da er einige Tage keine Briefe von Beauvoir, seinem „reizenden Castor“ erhielt.  Seine aktuelle Liebschaft, Tania, bereitet ihm auch Kopfzerbrechen, die er natürlich mit Beauvoir diskutiert.

Er schreibt ihr recht lang, ausführlich und doch ziemlich inhaltsleer. Die knapp 2 Seiten könnte man ganz kurz zusammenfassen: „Briefe nicht bekommen, Impfung erhalten, geschrieben und gelesen. Ärger mit Tania, <3“.

Für Sartre, für den die Kommunikation Lebensinhalt und Lebenselixier ist, geben auch diese paar dürftigen Punkte lange (Ab)Sätze her. Es ist fast schon kindlich, wie ausführlich er z.B. den Vorgang der Impfung und alle körperlichen Empfindungen danach aufschreibt und mitteilt– man kann sich des Gefühls nicht erwehren, ein kleiner Narziss sitze am Schreibtisch und dokumentiere sorgfältig alle Veränderungen, die er an seinem Körper feststellen kann…

27. Februar

Mein reizender Castor

Es ist Viertel nach eins, ich bin um 10 Uhr geimpft worden, und Sie sehen, daß es mir nicht schlechter geht. Trotzdem beeile ich mich, Ihnen zu schreiben, aus Angst, es könnte mir im Lauf des Tages flau werden. Aber ich wollte auf Ihre Briefe warten, um sie zu beantworten. Aber das Dumme ist, daß ich den vom Samstag nicht erhalten habe.

T. schreibt immer noch nicht, ich auch nicht. Über diese Geschichte möchte ich gerne mehr wissen und Ihre Ihre Meinung hören. Aber wahrscheinlich wissen Sie nicht mehr darüber als ich. Am Montag muß sie meine Erklärungen bekommen haben, und wenn sie antwortet, kommt der Brief morgen oder am Donnerstag. Sie aber könnten mir sagen, was für eine Bedeutung diese Geschichte hat. In Ihrem verlorengegangenen Brief erzählten Sie mir sicher auch von der Beziehung zwischen Bost und Zazoulich, wie Sie sie durch Z. mitbekommen haben. Aber ich weiß absolut nicht mehr von Ihrer ganzen kleinen Welt, das ist ein bißchen ärgerlich, weil da einiges los ist: es passieren Dinge in den Köpfen und den Unterhaltungen, und ich erfahre nichts.

Sie fragen mich, mein süßer Kleiner, ob ich nicht mehr traurig sei. Nein. Nicht wirklich. Nach zwei Tagen Aufregung, am Freitag und am Samstag, habe ich mich am Sonntag und Montag ganz beruhigt; die Gegenwart, das Foyer, der Geschmack der Pfeife, die Lektüre usw. haben wieder eine dicke Kruste um mich gebildet; ich habe in mein Heft geschrieben, daß ich eine „trübe Lebensfreude“ empfinde. Nur die Zeit wird mir lang, weil sie sich gänzlich um die Stunde der Post zentriert, und ausgerechnet die Post ist enttäuschend: gestern nichts von Ihnen, heute ein „Nach-Brief“, wissen Sie, mir scheint, so einer, wie man ihn nach einem langen Brief schreibt, in dem man die Themen und sich selbst erschöpft hat, das macht mich wütend, daß der andere verschlampt wurde, der umfangreich sein mußte. Kein Brief von T. So muß ich gleich nach der Post wieder anfangen zu warten. Zwar sehr geduldig, aber es ist trotzdem ein Warten, das die Gegenwart sehr langsam dahingleiten läßt. Erzählen Sie mir von allem.

Paul ist heute morgen entgegen meiner Erwartung so aufgekratzt zurückgekommen, daß ich ihn für betrunken hielt. Ich bin mit ihm einen Kaffee trinken gegangen, gegen halb zehn bin ich dann ins Lazarett, wo etwa zwanzig Soldaten warteten, die letzten, die geimpft werden mußten. Es dauerte länger, als ich dachte, weil es der letzte Schwung war und man den ganzen Rest zusammengefaßt hatte; man wartete in einem finsteren Korridor, der durch angemalte Scheiben blau erleuchtet war; ich habe mit einem Fahrer-Fotografen über Politik geredet, es war der, der auf den Lappen pinkelte, um die Scheiben seines Wagens zu putzen. Und gegen halb elf Uhr hat man mich dann in ein kleines Zimmer geschoben, wo der Arzt impfte. Es ging so schnell, daß ich es nicht einmal gemerkt habe ich habe einen kleinen Stich gespürt und mir gesagt: er sucht mit der Nadelspitze die richtige Stelle. Aber keineswegs, es war schon vorbei. Das ist der Vorteil, wenn man dick ist: die Dünnen haben gelitten. Dann bin ich, dieses eine Mal in meinen Mantel gehüllt, ins Foyer zurückgekehrt. Ich habe sehr gut am Roman arbeiten können bis halb eins, der Zeit, wo ich Post holen ging (Sie wissen, daß man am ersten Tag fastet), und danach bin ich zurückgekehrt, um Ihnen zu schreiben. Es ist zwei Uhr, und ich spüre nichts, außer einem kleinen Knoten unter der Achsel und einem leichten Schmerz im Rücken. Man hat mich ins linke Schulterblatt gespritzt, und meine linke Hand ist kalt – dagegen ist die Rechte warm, aber das ist nicht unangenehm, im Gegenteil, es ist wie Hot fudge. So, mein süßer Kleiner. Habe ich Ihnen gesagt, daß ich voller Bewunderung La chartreuse de Parme wiederlese? Das ist großartig. Man muß voreingenommen sein wie der kleine Bost, um das Sumatra-Kapitel mit Stendhal vergleichen zu können. In diesem Roman gibt es einen Reichtum an Erfindungen und Details, der mich buchstäblich fassungslos macht.

Mein süßer Kleiner, Sie haben Recht zu sagen, daß unsere Liebe nie so notwendig und so stark war. Ich fühle es jeden Tag. Sie sind ein kleiner Vernünftiger und ein wunderbares kleines Geschöpf. Ja, mon cher amour, wir werden einen sehr schönen Urlaub haben. Und, wissen Sie, man spricht jetzt von einem Monat, dann wäre ich um den 1. April herum bei Ihnen.

Ich liebe Sie so sehr, so sehr, mein reizender, mein süßer kleiner Castor.

sartre-beauvoir

Aber wir brauchen uns um Sartre keine Sorgen machen. Am nächsten Tag treffen Beauvoirs „verlorene“ Briefe ein und er ist wieder voller Zuversicht und wälzt noble Pläne:

Ich bin dabei, mich zu ändern. Ich will nur noch Reines, und Sie wissen, was ich darunter verstehe: meine Gefühle für T. haben nichts sehr Erhabenes, aber sie existieren, ich bin wütend, wenn sie mich anschnauzt, ich mache mir Sorgen ihretwegen, ich bin gerührt, wenn sie zärtlich ist usw. Und gewiß, es ist zutiefst bedauerlich, daß ich die Sache so eingerichtet habe, daß ich, um einen Moment große Zärtlichkeit auszudrücken, gezwungen bin zu sagen: „Ich liebe Sie leidenschaftlich.“ Und es ist bedauerlich, daß ich ihr über Sie etwas vorlügen muß usw. Aber sosehr diese Geschichte auch voller kleiner Gemeinheiten und kleiner Lügen ist, sie ist doch richtig, weil ich an T. hänge. Der Krieg hat mich die Hierarchie spüren lassen. Beklagen, Sie sich nicht, er hat mir nicht die unendliche Distanz gezeigt, die meine Zuneigung zu Ihnen von allen anderen trennte – das wußte ich schon -, sondern er hat mich gelehrt, daß Ihnen gegenüber keine Nachlässigkeit und kein Laisser-aller erlaubt ist, da diese Liebe so stark ist und Adel verpflichtet. Aber zudem hat er mir offenbart, daß ich, so wenig das auch sein mag, volle Gefühle für T. habe, und ich habe so selten volle Gefühle, daß sie mir wertvoll geworden sind. Und dann hat mich das auch bewogen, mit diesem Leben der kleinen Eroberungen aufzuhören. Wenn ich mich nach dem Krieg verabrede, so nicht als Schürzenjäger, sondern wegen ganz anderer Dinge. Nur muß ich dann, eben weil mein Gefühlsleben begrenzt ist, ich meine, mit klaren Konturen, wirklich nur das behalten, was ich für mich annehmen kann. Und – Sie stehen nicht zur Debatte – das ist T. Ich möchte Schluß machen mit dieser ganzen fragwürdigen Großzügigkeit, die mich Stunden und Stunden mit Leuten zubringen läßt, die mir nicht mehr bedeuten als ein abgeschnittener Fingernagel, unter dem Vorwand „es wäre zu gemein, Ihnen weh zu tun.“ Dafür fühle ich mich nunmehr hart genug. Ich möchte an Dingen hängen, ich habe es satt, ein kaltblütiger Fisch oder ein Grab zu sein. Ich möchte mich also nicht verzetteln und meine Möglichkeiten, Leute und Dinge zu lieben, vergeuden, indem ich Leuten, an denen ich nicht hänge, Märchen erzähle… Ich weiß: es gibt Schlimmes in meiner Beziehung zu T. Es ist schlimm, daß ich gezwungen bin, ihr zu sagen, daß ich Sie nicht mehr liebe, schlimm, daß ich glaube, schreiben zu müssen: „Ich gehe über Leichen (einschließlich über die Castors, trotz meinem Mystizismus)…

Ach, da haben wir es! Sartre, der geläuterte Checker? SO NOT.  Ich habe das Gefühl, dass es sich um etwas gänzlich anderes als Selbstgeißelung handelt: In hübsche Worte der Selbstkritik gehüllt, gefällt sich hier einer als der große Womanizer. Er hat es nicht nur fertiggebracht, neben Beauvoir eine zweite Freundin zu haben (an sich keine große Leistung, da mit Beauvoir so ausgemacht), sondern dieser neuen Freundin auch kaltschnäuzig zu eröffnen, dass er Beauvoir aufgegeben hat, dann aber noch weiter zu gehen und Beauvoir über diesen vermeintlichen Verrat penibelst zu berichten und ihn somit zu einem Doppelverrat zu stilisieren. Großes Kino von einem, der so viel über Anstand und Moral philosophiert hat.

Und ja, natürlich ändert er sich in dieser Hinsicht nicht wirklich. Auch nicht nach dem Krieg. Aber das ist eine andere Geschichte…

bucher-sartre

Die Ziatate entstammen folgender Ausgabe: Jean-Paul Sartre; Briefe an Simone de Beauvoir und andere; Band 2, 1940-1963; herasugegeben von Simone de Beauvoir; aus dem Französischen von Andrea Spingler; Rowohlt, 1986, Hamburg

7 Gedanken zu “27. Februar – Throwbackmonday mit Jean-Paul Sartre

  1. Simone hat sich mit Nelson Algren zwischenzeitig, wie soll ich sagen, gütlich getan? Das wiederum spricht für ihr „Auge“ und ihren Intellekt,.
    Vielleicht war Sartres Hässlichkeit der eigentliche heimliche Wegbereiter der asexuellen offenen Beziehung zwischen den Beiden, aber was weiß ich schon darüber.

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    • Sie hat Nelson Algren erst 7 Jahre später kennengelernt, also nicht ganz „zwischenzeitig“. Und du hast recht: Wir wissen nichts darüber, warum Leute Beziehungen pflegen, so wie sie es tun und das ist gut so 🙂 Im Übrigen glaube ich, dass auch Männer mit einem weniger vorteilhaften Aussehen aber mit einem überragendem Intellekt eine gewisse Faszination auf Frauen ausüben können. Und auch das ist gut so 🙂

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      • Mit „zwischenzeitig“ bezog ich mich auf den gesamten Zeitraum der Beziehung zwischen Sartre und Beauvoir. Es gab ja auch später immer wieder einmal Dreiecksverhältnisse.

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