Es ist der 10. Oktober 1939, wir befinden uns in Paris. Frankreich führt seit 5 Wochen Krieg. Kampfhandlungen gibt es zwar in und rund um die Hauptstadt noch keine, aber die Kriegsrealität holt auch Simone de Beauvoir und Sartre ein. Sartre musste einrücken. Und selbst wenn seine Einheit, jene der Meteorologen, nicht gerade für Heldentaten vorgesehen ist und somit keine unmittelbare Lebensgefahr für ihn besteht, ist es klar, dass er für lange Monate wegbleiben wird. Die Trennung stellt für ihn und Beauvoir, die ein unglaublich exzessives Kommunikationsverhalten pflegen, eine große Herausforderung dar. Sie berichten einander täglich in langen, ausführlichen Briefen über kleine und große Vorkommnisse ihres Alltages – so auch Beauvoir am 10. Oktober 1939.
Der Tag ist insofern bedeutsam, als Sartre mit seiner Einheit immer weiter von Paris wegrückt, sodass Beauvoir zu dieser Zeit wirklich bewusst wird, sich auf lange Monate ohne ihn einstellen zu müssen. Die angehende Vorreiterin des Feminismus reagiert, wie die meisten Frauen reagieren würden: Enttäuscht, traurig, mit Tränen und Liebesschwüren – das macht sie in meinen Augen sehr authentisch und sympathisch.
Aber so enttäuscht sie auch ist, gibt sie sich Mühe, Contenance und ihre legendäre Lebensfreude zu bewahren und Sartre eine unterhaltsame Schilderung ihrer letzten 24 Stunden zu bieten. Sie berichtet minutiös über Begegnungen mit Freunden, über Gespräche, Stimmungen, Kleinigkeiten bis hin zum Dominospiel – und beschreibt unter anderem ihr neues Hotelzimmer: ein Glücksfall für alle, die immer schon wissen wollten, wie die Boheme in den 30er Jahren in Paris hauste.
Und schließlich reflektiert sie – ganz Philosophin – ihre Rolle als „Frau in Kriegszeiten“, bevor sie den Brief, abgeleitet aus der eben noch etwas philosophischen Reflexion, mit den nettesten Banalitäten abschließt, die man sich vorstellen kann.
an Soldat Sartre, Wetterbeobachtungsstation, Stab der Artillerie, Abschnitt 108
„Le Dôme, Dienstag abend
Mon amour…
… Es ist also aus, es gibt keine Hoffnung mehr… Heute abend begreife ich zum erstenmal vollständig, daß ich ohne Sie leben werde, daß ich Sie lange, lange Zeit nicht sehen werde, das schien mir unmöglich – ohne Sie – ich kann diesen Gedanken nicht ertragen. Sie, Sie anderes Ich, oh, liebes kleines Geschöpf, ich könnte vor Liebe sterben…
… Heute früh habe ich angefangen, meine Sachen ins „Hôtel du Danemark, in der Rue Vavin 21, zu bringen – … Ich habe aufgeräumt und mein Zimmer eingerichtet, es gefällt mir viel mehr als das im Hotel Mistral; derselbe Stil, aber größer und angenehmer: ein riesiges Bett in einem Alkoven, ein großer Tisch und darüber Bücherregale, ein schöner sehr bequemer Spiegelschrank, schwere abgenutzte rote Samtvorhänge, ein schmutziger Wandschirm, der das Waschbecken verdeckt, und auf dem Boden ein verdreckter schrecklicher kleiner Teppich. Mein Stuhl ist gepolstert und mit schmutzigem roten Stoff bespannt, und ein zweiter hat Plüsch. Angenehm ist, daß meine Birne normal ist, weil die Vorhänge dick sind, und ich also menschenwürdiges Licht habe. Und über meinem Bett ist eine Lampe. Wirklich, ich war noch nie so gut eingerichtet…ich habe außerdem eine Menge Bücher auf meinen Regalen, und es macht mir Spaß, wieder mit Schreiben anzufangen. All das hat einen Moment meinen Geist beschäftigt und mir ein Gefühl von Ruhe gegeben…
… Noch eine kleine Nachricht aus dem Dôme – vorhin hatte ich so ein komisches Gefühl; während ich Ihnen schrieb, habe ich geweint und auch noch danach, ausgiebig. Und dann habe ich mir das Gesicht gewaschen, um zum Abendessen zu gehen und im Dôme herumzutrödeln; und als ich mir das Gesicht zurecht gemacht habe, hatte ich eine lebhafte Vorstellung von mir selbst… ich sah die kommenden Minuten vor mir, wie ich sie ganz erfüllt von diesen Tränen, die ich vergossen hatte, erleben würde; das war auf ungewöhnliche Weise typisch Frau in Kriegszeiten. Und dann habe ich in einer gewissen Verwirrung gedacht „ich bin diese Frau, mir stößt das zu“; ich betrachtete das aus der Tiefe des Raumes und der Jahrhunderte heraus, sekundenlang entging etwas in mir wirklich der Geschichtlichkeit… ich fühle mich ganz seltsam. Es kommt mir vor, als wäre ich eine andere in einem Schattenreich, und ich kann nicht glauben, daß ich wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut werde…
… Aber wenn ich daran denke, wie ich Sie wiedersehe, dann bin ich wieder von Leben erfüllt, und die Erde und das Licht werden wieder dasein, Sie werden niemals ein Schatten sein. Oh, kleiner Absoluter, meine Kraft, mein einziges Leben. Das wunderbare Glück, in derselben Welt wie Sie zu sein, werde ich niemals zu teuer bezahlen, und sei es mit ihrem Tod, dem meiner sofort folgen würde. Mon cher amour.“
Den ungekürzten Brief und weitere Briefe gibt es in
Simone de Beauvoir, Briefe an Sartre: 1930-1939
Simone de Beauvoir, Briefe an Sartre: 1940-1963
In den zwei Bänden entfaltet sich auf rund 1.000 Seiten das beeindruckend intensive Geistes- und Gesellschaftsleben des Paris des 20. Jahrhunderts – dargestellt aus dem sehr persönlichen Blickwinkel Simone de Beauvoirs. Berühmte und weniger bekannte Denker; Werke und Projekte von fundamentaler Bedeutung, gesellschaftliche Entwicklungen, politische Debatten – eingerahmt von großen und kleinen Lieben, Liebschaften und Eifersüchteleien. Der Vormarsch der technischen Entwicklung, Reisen in ferne Länder, wichtige Begegnungen, Freundschaften, Zerwürfnisse… Die Lektüre ist unterhaltsam, sehr lang und zeitweise etwas kleinteilig – aber eine einmalige Gelegenheit, Paris, dem Kreis der Existentialisten und den Menschen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre näher zu kommen. Eine absolute Empfehlung!
Die Rechtschreibung der Briefzitate entspricht der Ausgabe Rowohlt 1998
Danke für das zeitgerechte Zitat für den Frieden.
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Anregend der von Beauvoir geschilderte Kontrast zwischen dem Gerede vom Typischen und der eigenen Erfahrung des Typischen. Man beruhigt sich nicht mit einem Appell an das Typische (Das geht doch allen so!); wer eine allgemeine Erfahrung erfährt, erfährt sie nicht typisch, sondern selbst (Mir stößt das zu!). In solchen feinen Unterscheidungen lese ich auch immer einen Einwand des Singulären gegen das Allgemeine als Typischem; also gegen das Gerede von der Frau oder von dem Mann, oder den Frauen usw. Für mich ist daher Beauvoir in erster Linie keine Vorkämpferin, sondern eine fabelhafte wie inspirierende Schriftstellerin und Denkerin. Ich schätze, d.h. ich empfehle gerne und oft, ihren Roman >Alle Menschen sind sterblich<. Mit einem genialen Unsterblichkeits-Plot ausgestattet, läßt sich dieser Roman nebenbei als Kontrastmittel für die derzeit gängigen Vampirfilme benutzen: er machte sichtbar, dass es darin nur um Identifikation geht: als Selbstvergessenheit am Berauschen an stellvertretend mächtigen, überirdischen, eitel-elitären Fähigkeiten des Helden. Von dieser leichten Hausmannskost ist Beauvoirs schwerverdauliche Gourmandise weit entfernt – als Sprachkunstwerk mit tragischer Erkenntnis.
Gruß
Phileos
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Dass sie in erster Linie Denkerin und Schriftstellerin ist sehe ich auch so. „Alle Menschen sind sterblich“ hat natürlich eine Sonderstellung unter ihren Büchern aber ich mag auch sehr gerne „Sie kam und blieb“ und all ihre autobiographischen Werke, die es einem Erlauben, in dieseWelt der wiklich intensiven Denkfreuden einzutauchen. Und zum Abschluss die „Zeremonie des Abschieds“.
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