Der Report der Magd – The Handmaid´s Tale

Vor einigen Monaten haben mich meine Nichten eingeladen, die Hulu-Verfilmung von Margaret Atwoods düsterer Dystopie Der Report der Magd gemeinsam anzusehen. Die filmische Umsetzung hatte eine unwiderstehliche Sogwirkung und der Abend entglitt bald zu einer Binge-Watching-Videonacht. Dabei war für mich die erste Staffel mit der sehr stringent aufgebauten Theokratie und deren blutig erzwungenem Kastensystem absolut nachvollziehbar. Die Charaktere sind stark gezeichnet und auch bildlich absolut suggestiv umgesetzt.

Der-Report-Der-Magd-Film

An der zweiten Staffel verlor ich jedoch zusehends das Interesse: die Handlung entwickelte sich immer mehr Richtung Handmaid meets Hungergames, die Dystopie Richtung jenes actionbeladenen misogynen Softpornos, den schon die Mutter der Hauptdarstellerin zu bekämpfen versuchte. Die dritte Staffel war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen. Ich las im Internet die Inhaltsangaben durch und verzichtete darauf, diese zu sehen.

Ehrlich gesagt war ich ein wenig enttäuscht, dass die große Romanschriftstellerin Margaret Atwood eine dermaßen sensationslüsterne Geschichte verfasst hatte. Später beschlichen mich jedoch Zweifel: waren es vielleicht die Zwänge der Popkultur, die das Original dermaßen aufbauschten?

Deswegen habe ich gleich auch das Buch gelesen und musste mit Erleichterung feststellen, dass Atwood kein Actionkino geschrieben hatte. Der Report der Magd ist kein atemloser Blockbuster, sondern eine sehr durchdachte, mit zwingender Logik aufgebaute Dystopie einer Gesellschaft, in der Umweltkatastrophen, (chemische) Kriegsführung, und das Auseinanderdriften sozialer Normen allmählich zur Gründung eines totalitären, christlich-fundamentalistischen Staates führen. (oh no, this ist he road to hell…)

Dabei wird die Demokratie schrittweise eingeschränkt, sodass die Menschen zu Beginn die warnenden Zeichen übersehen oder zumindest mit etwas Anstrengung übersehen können.

We lived, as usual, by ignoring. Ignoring isn’t the same as ignorance, you have to work at it.

Irgendwann hilft aber auch das konsequenteste Wegschauen nicht mehr. Die Theokratie übernimmt die Herrschaft. Gilead wird gegründet.

Frauen werden sofort entrechtet. Es ist ihnen nicht erlaubt zu arbeiten, Eigentum oder Geld zu besitzen und sie dürfen nicht einmal mehr lesen. Wie es die Protagonistin, die spätere Magd erkennen muss: Ein Miteinander mit ihren Männern ist nicht mehr möglich. Sie gehören ihren Männern.

Aber es kommt noch schlimmer. Die neuen Herrscher führen ein strenges Kastensystem ein: Die Aufmüpfigen und die Älteren werden versklavt und in den Kolonien zu Tode geschunden. Die Unterschicht temporär geduldet bzw. für Hausarbeiten bei der Oberschicht herangezogen, die wenigen fruchtbaren Frauen wiederum der Oberschicht als Gebärsklaven zur Verfügung gestellt. Man bezieht sich dabei auf die Geschichte von Rachel und Bilha und interpretiert diese alttestamentarische Überlieferung auf perfide Art und Weise in Form eines für jeden Beteiligten entwürdigenden Rituals um.

Das Interessante an diesem Detail ist, dass es eigentlich stellvertretend für das ganze System steht: Es wurde ein Staat geschaffen, in dem ausnahmslos jeder unglücklich ist. Es gibt Diktaturen, in denen zumindest die Oberschicht Vorteile aus der Unterdrückung der Bevölkerung bezieht. Nicht so in Gilead. Hier vegetieren alle isoliert und bar menschlicher Freuden dahin. Selbst die privilegierten Frauen müssen ihre Zeit sinnentleerten Tätigkeiten widmen und die „mächtigen“ Männer verbringen ihre Abende entweder allein auf ihren Arbeitszimmern oder in semilegalen Bordellen, die zwar eine oberflächliche Zerstreuung bieten aber auch die Gefahr bergen, nicht nur Karrieren, sondern (durch drakonische Strafen) auch die Körper ihrer Träger zu  zertrümmern.

Der-Report-Der-Magd-The-Handmaid´s-Tale

Da die theologisch-philosophische Basis dieses entarteten Staates so wenig überzeugend ist, müssen die Unterdrückten laufend kontrolliert und eingeschüchtert werden. Bald gehört es zum selbstverständlichen Teil des Lebens, die Leichname von Regimegegnern an den ehrwürdigen Mauern ehemaliger Ivy-League-Universitäten baumeln zu sehen. Aber auch daran gewöhnt man sich mit der Zeit.

Ordinary … is what you are used to. This may not seem ordinary to you now, but after a time it will. It will become ordinary.

– sagt Tante Lydia, die zur Gehirnwäsche der Mägde abkommandierte Aufseherin zu ihren „Schützlingen“. Ihre als Trost getarnten Worte lassen den Mägden das Blut in den Adern stocken. Denn wie sollen sie Leben inmitten dieser neuen „Normalität“, mit all den Schrecken, ohne Vergangenheit, ohne eine sinnvolle Gegenwart und ohne Hoffnung?

Don’t let the bastards grind you down.

Diese Botschaft findet die Protagonistin, Desfred in ihrem Zimmer und sie versucht sich an sie zu klammern, Kraft und Hoffnung aus ihr zu schöpfen. Aber ein catchy Slogan reicht natürlich nicht, um gegen die Übermacht einer Diktatur anzukommen.

Gott sei Dank ist Atwood auch ehrlich genug, dies in seiner vollen Drastik darzustellen.

Desfred (die nicht einmal einen eigenen Namen haben darf, sondern diesen jeweils aus dem Namen ihres aktuellen Herren ableiten muss) versucht sich aufzulehnen: Informationen über den Untergrund einzuholen, menschliche Beziehungen zu etablieren, nach ihrer geraubten Tochter zu suchen, sich kleine unerlaubte Freuden zu leisten. Aber der Kreis um sie wird immer enger. Und als ihre Freundin, eine Magd, die für den Widerstand arbeitet, vor der Verfolgung in den Selbstmord fliehen muss, wird sie von der Ohnmacht und der Panik um ihr Leben eingeholt.

Dear God, I think, I will do anything you like. Now that you´ve left me off, I´ll obliterate myself, if that´s what you really want; I`ll empty myself, truly, become a chalice. I´ll give up Nick, I´ll forget about others, I´ll stop complaining. I´ll accept my lot. I´ll sacrifice. I´ll abdicate. I´ll renounce.

I know this can´t be right but I think it anyway. Everything they taught at the Red Center, everything I´ve resisted, comes flooding in. I don´t want pain. I don´t want to be a dancer, my feet in the air, my head a faceless oblong white cloth. I don´t want to be a doll hung up on the wall, I don´t want to be a wingless angel. I want to keep on living, in any form. I resign my body freely, to the uses of others. They can do what they like with me. I am abject.

I feel, for the first time, their true power.

Desfred lässt sich also von den Bastarden unterkriegen – mangels Alternativen.

Ich bin Atwood für diese Zeilen sehr dankbar. Zeigt sie doch ehrlich, wie es in Diktaturen für die Allermeisten zugeht. Kein Heroismus, keine auf Hochglanz polierte Verfolgungsszenen über 15 Serienfolgen hinweg und selbst wenn einige die Kraft aufbringen, sich aufzulehnen wird sie die Übermacht zerschmettern. Das liegt eben in der Natur der Übermacht.

Hier noch, was Atwood dazu sagt:

The Handmaid´s Tale suggested that probably we would not be revolutionaries. Probably we would be normal people who got chewed up and spat out by the regime, because historically, that’s what generally happens to people living in totalitarian governments. They get ground down.

Hier könnte man das Buch beenden. Und keiner könnte behaupten, Atwood wäre zu pessimistisch. Umso weniger, als es beim genauen Hinsehen schnell klar wird, dass Gilead eigentlich keine richtige Utopie oder Dystopie darstellt. Es ist keine klassische Neuschöpfung einer Schreckensherrschaft, sondern eine Zusammenstückelung bereits vorhandener oder dagewesener menschlicher Entgleisungen. Ein Mosaik gesellschaftlicher Fehlleistungen vieler Jahrhunderte und Kontinente. (Und nebenbei: dies mit einem starken viktorianischen Filter, was dem brutalen Gesamtbild einen verstörend altmodischen ästhetischen Stempel aufdrückt.) Nichts Neues also, die ewige Wiederkehr von Unterdrückung, Kastensystem, Misogynie, Gehirnwäsche, Ressourcenneid – und Abertausende Menschen, die daran zerschellen.

Aber dann gibt es auf den letzten Seiten des Buches doch noch einen Hoffnungsschimmer. Eine Art Happy End oder ein Beinahe Happy End oder zumindest ein Happy End Potenzial, mitten in der dunkelsten Stunde, mit der Plötzlichkeit, mit der sonst nur in Barock-Opern eine unerwartete göttliche Fügung den fast sicheren Gang einer Katastrophe abwendet.

Ein Volksaufstand bricht aus und besiegt den Diktator. Der herbeigesehnte Bräutigam trifft plötzlich ein. Apoll rettet die Rettungswürdigen. Oder – in unserem Fall – Desfred wird von dem Untergrund entführt – möglicherweise. Wir wissen es nicht genau und dürfen somit je nach persönlichem Bedarf an Hoffnung das weitere Schicksal der Magd und Gileads für uns ausmalen.

Dazu auch die Schrifstellerin in einem Interview mit Alexandra Alter:

History is full of people who disappear and you can’t find any trace of them. What ending would you like to have?

Die Verantwortung bleibt also bei uns. Glauben wir an die Undurchdringlichkeit der Kontroll- und Einschüchterungsmaßnahmen? Glauben wir, dass „das System“ zusehends professioneller und reibungsloser funktionieren wird? Oder umgekehrt? Wird die Diktatur durch Korruption und Hexenjagd unter den Eliten, durch Angriffe von außen oder eine allgemeine Demoralisierung zerbröseln? (auch schon oft gesehen).

Atwood gibt darauf in Der Report der Magd keine klare Antwort. Vielleicht auch deswegen, weil die Frage nach der Zukunft gar nicht die Spannendste ist, sondern vielmehr jene nach der Entstehungsgeschichte.

Wie konnte es so weit kommen? Was hätte man wissen können? Was waren die Zeichen, die man übersah? Und die ewigen Klassiker, denen sich auch Max Frischs‘ „Herr Biedermann“ stellen muss, nachdem sein Haus in Flammen aufging:

Aber was hätten Sie gemacht an meiner Stelle? Und wann?

Ein kurzes Nachwort:

Natürlich ist die Zukunft auch keine vernachlässigbare Größe. Gestern erschien Atwoods Sequel zum „Report“: Die Zeuginnen / The Testaments. Näheres dazu bald, vielleicht mit einem kleinen Teaser von der Grande Dame der Literatur:

I’m a World War II baby. Things looked pretty dark in 1942.

Die-Geschichte-der-Dienerin-Volker-Schnlöndorff

Eine Empfehlung noch:

Lange noch vor der Hulu Video Serie wurde „Der Report der Magd“ von Volker Schlöndorff verfilmt. „Die Geschichte der Dienerin“ (1990) orientiert sich streng an der Romanvorlage und weicht von dieser nur gegen Ende des Films ab.

3 Gedanken zu “Der Report der Magd – The Handmaid´s Tale

  1. Ich bin froh, daß ich den Roman las, bevor die Hulu Version erschien, ansonsten wäre ich vielleicht versucht gewesen, mir die Verfilmung anzuschauen. So habe ich keinerlei Bedarf dafür. Bisher gibt es noch keine Filmversion eines literarischen Werkes, die mich völlig überzeugt hätte. Ich bin mal gespannt, was sich Margaret Atwood für die Fortsetzung ausgedacht hat-34 Jahre später!
    Schön, mal wieder etwas von Dir zu lesen.
    Liebe Grüße,
    Tanja

    Gefällt 2 Personen

    • Liebe Tanja, ich kenne zwei Verfilmungen, die mir sehr gut gefallen haben: „Die Zeit der Unschuld“ und „Das Geisterhaus“. Diese kann ich empfehlen, wobei Geschmäcker natürlich unterschiedlich sind. Falls du sie gesehen haben solltest, würde es mich interessieren, was du von ihnen hältst.
      Liebe Grüße,
      Andrea

      Gefällt 1 Person

      • Liebe Andrea,

        ich habe diese Romane weder gelesen noch deren Verfilmungen gesehen (ich weiß, meine Bildungslücke ist riesig).

        Ich habe den Entschluß gefaßt, mir keine Verfilmungen anzuschauen, wenn ich das Buch bereits gelesen habe, oder noch lesen will, denn die optischen Eindrücke sind für mich so überwältigend, daß ich mir überhaupt kein eigenes Bild mehr machen kann, wenn ich mir dann endlich den Text vornehme.

        So machte ich zum Beispiel den Fehler, alle Jane Austen Werke vor der Lektüre als Filme gesehen zu haben , und Elizabeth Bennett wird immer wie Keira Knightley aussehen und agieren (es gibt natürlich Schlimmeres).

        Dir ein schönes Wochenende,
        Tanja

        Gefällt 1 Person

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