A. in Wonderland, Part 3
Ussé wird in den Reiseführern gerne als das „Dornröschenschloss“ angepriesen. Diese Beschreibung ist absolut treffend, hinzuzufügen wäre nur noch die Ergänzung: Dornröschenschloss im Disney-Stil. Die bunte Mischung der architektonischen Dekoelemente vieler Jahrhunderte ergibt ein waschechtes Prinzessinnenschloss, dem es eindeutig an Orientierung und Understatement fehlt.
Das Schloss wurde Anfang des 15. Jahrhunderts erbaut, wobei es auf eine ältere Burganlage als Vorgänger verweisen kann. Von Außen wirkt es prächtig, ja fast schon übermäßig verspielt, mit einer beeindruckenden Hanglage über der kleinen Ortschaft Rigny-Ussé.
Kommt man ihm jedoch näher, so merkt man sehr schnell, dass es selten in seiner Geschichte einen Besitzer über einen wirklich langen Zeitraum hatte. Bereits im 18. Jahrhundert kam es auf gut 10 Eigentümer und im 18./19. Jahrhundert wechselten seine Besitzer in der Regel alle paar Jahre. Entsprechend heruntergewirtschaftet ist das Gebäude – es bröckelt an allen Ecken und man sucht vergeblich nach wahrer Größe, nach innerer Wärme.
So pflegt man, ich vermute notgedrungen, das, was vorhanden ist – das Image „Märchenschloss“. Stolz wird auf Charles Perrault verwiesen, der hier zu seiner Erzählung La belle au bois dormant inspiriert wurde. Diese französische Version von Dornröschen wird touristisch erbarmungslos ausgeschlachtet.
Als Aufwärmrunde zeigen im Hauptgebäude, auf mehrere Räume verteilt, verstaubte Wachsfiguren die Mode verschiedenster Epochen und versuchen – mit eher überschaubarem Erfolg – von fehlendem Flair der verwitterten Räume und Fluren abzulenken.
Vom Stammhaus geht es über dem Hof zur Hauptattraktion: Im großen Turm wird, mit sehr aufwendig gestalteten szenischen Nachbildungen, die Geschichte von Dornröschen erzählt, was zu einer veritablen Disneyland-Orgie ausartet. Die Besichtigungstour wird auf den Außengängen geführt – durch etwas verdreckte Fenster blickt man in die einzelnen Innenräume, in denen die Wachspuppen-Arrangements untergebracht sind.
Da die Außengänge sehr schmal sind, drängen sich zwischen den aufgeregt zwitschernden Kiddies etwas missmutige Eltern von Fenster zu Fenster, den Nachwuchs zu mehr Vorsicht auf Stufen und Engstellen ermahnend. Dabei ist Vorsicht eher für die Eltern geboten: So mancher Türsturz ist dermaßen niedrig, dass man auf die Köpfe aufpassen muss, will man nicht das Schicksal von Karl dem VIII. erleiden. Dieser prallte 27-jährig auf Schloss Amboise gegen einen steinernen Türsturz und erlag wenig später einer Hirnblutung.
Aber genug der trüben Gedanken!
Es wäre ungerecht, über Ussé nur Negatives zu berichten. Denn erstens ist auf dem riesigen Dachboden des Turmes (im einzigen begehbaren Raum im Dornröschen-Panoptikum) der dramatische Höhepunkt des Märchens, die zu hundertjährigem Schlaf erstarrte Welt, dermaßen eindrucksvoll dargestellt, dass man sogar als vermeintlich kitschresistenter Erwachsener dem dick aufgetragenen Zauber zu erliegen droht.
Weiters liegt Ussé auch sehr malerisch, mit fantasievollen, sehr gepflegten Blumenterrassen und einem weitläufigen Blick zum Indre, angrenzende Felder mit weidenden Herden inkludiert.
Dann gibt es in der Parkanlage eine doch recht adrette Frührenaissancekapelle und neben dieser zwei stattliche Libanon-Zedern, die einst Francois René de Chateaubriand der Schlossherrin geschenkt haben soll. Die Baumgreise zählen mittlerweile 210 Jahre und gehören somit zu den geschichtsträchtigsten Zeugen dieses Schlosses, indem sie von Zeiten erzählen, als hier noch nicht Disney die Vorherrschaft hatte, sondern Claire Lechat de Kersaint einen literarischen Salon unterhielt.
Die Pflege literarisch-philosophischer Kultur war in Ussé übrigens hoch angeschrieben. Im Laufe der Jahrhunderte suchten im Schloss neben den bereits erwähnten Perrault und Chateaubriand, Geistesgrößen wie Rousseau und Voltaire Inspiration.
Diesen Spirit sucht man heute jedoch vergeblich. Wobei man sehr bemüht ist, die Geschichte des Schlosses den Besuchern zu vermitteln. In der Kapelle ist diese auf zwei Marmortafeln sehr ausführlich beschrieben. Nicht nur die Besitzer werden detailliert angeführt, sondern auch die Nöte, die das Schloss etwa während der Französischen Revolution erleiden musste. Meinen persönlichen Höhepunkt bildet jener Eintrag, der verkündet, an welchem Tag genau vier Pferde von den Aufständischen requiriert wurden.
Diesen für Revolutionszeiten doch recht bescheidenen Verlust konnten die damaligen Schlossherren offensichtlich recht gut verschmerzen. Und auch in der weiteren Folge der Geschichte sind Ussé wirklich schlimme Zerstörungen erspart geblieben – aber dem Schloss hat ein offensichtlich durch Jahrzehnte andauernder Geldmangel seinen Stempel stark aufgedrückt.
In den Ausstellungsräumen wurden die Risse der bemalten Wände nonchalant mit weißer Spachtelmasse versorgt, lose Holzplatten des Parkettbodens lieblos und ohne Respekt für das edle Material festgeschraubt, Wasserschäden nicht einmal notdürftig kaschiert.
Besonders schlimm hat es die den Besuchern abgewandte Seite des Schlosses erwischt. Diese wird von Rohrinstallationen verunstaltet, die jedem, Kummer noch so gewohnten, Denkmalschützer verlässlich Alpträume bereiten würden.
Wobei meine kritischen Worte ob der Bausubstanz des Schlosses keineswegs sarkastisch wirken sollen. Es ist mir durchaus bewusst, welch finanzielle Kraft die Erhaltung und die entsprechende Pflege einer solch riesigen Anlage erfordern. Und nur weil man ein Schloss geerbt hat, wird man nicht notwendigerweise über uneingeschränkte Finanzmittel verfügen um dieses auch weiterhin in Stand halten zu können. Aber ein wenig mehr Liebe zum Detail würde dem Schloss mit Sicherheit zu Gute kommen.
Der fast schon ostentativ unbekümmerte Umgang mit dem denkmalgeschützten Bau ist umso überraschender, als dass Ussé, nach fünf Jahrhunderten sehr wechselhafter Besitzverhältnisse, seit Ende des 19 Jahrhunderts in den Händen einer einzigen Familie – den Nachkommen des Grafen Bertrand de Blacas – ist. Sie wohnen bis heute im Schloss, weshalb nicht alle Teile besichtigt werden können.
Aber was man gesehen hat, reicht eigentlich. Zielgruppe hier sind ohnedies eher Familien mit kleinen Kindern.
Fazit: ein sehr romantisch angehauchtes Anwesen mit viel Potenzial, das mit sehr-sehr-sehr viel Geld zu heben wäre.
Ein kleiner Lifehack zum Schluss: In Ussé auf keinen Fall auf die Toilette gehen!
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Dein Fazit am Ende hat mich amüsiert. Wäre ein Busch im Schlossgarten einladender? 😊
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Haha, ich bin geneigt zu sagen, „möglicherweise“.
Aber Spaß beiseite. Wenn man im Loiretal unterwegs ist, besichtigt man normalerweise mehrere Schlösser am Tag. Und mein Hinweis zielt eher darauf ab, in diesem Zusammenhang eher auf das vorhergehende oder nachfolgende Schloss auszuweichen, falls man ein wenig Planungsspielraum hat. 🙂
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