Oliver Sacks: Zeit des Erwachens

Der „Zauberlehrling“ in einer dramatischen Neuinterpretation

Das 20. Jahrhundert hat die Welt mit zahlreichen (größtenteils hausgemachten) Katastrophen heimgesucht. Die Verarbeitung dieser Traumata ist immer noch im Gange – nur so ist es zu erklären, dass heutzutage kaum noch jemand von der Europäischen Schlafkrankheit spricht. Dabei hat diese furchtbare Epidemie 1916-1927 über 5 Millionen Menschen hinweggerafft und unzählige schwer beschädigt hinterlassen.

Europäische-Schlafkrankheit

Doch die 60-er Jahre brechen an: eine Zeit vielversprechender medizinischer Neuentdeckungen und des unbedingten Fortschrittsglaubens. Neue Medikamente überschwemmen den Markt, die Pharmaindustrie und viele Ärzte experimentieren, für heutige Begriffe unvorstellbar leichtfertig, mit unterschiedlichsten Wirkstoffen. (Man denke nur an den Contergan-Skandal).

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Die Euphorie ist natürlich nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten stark ausgeprägt. So behandelt der hoffnungsfrohe Nachwuchs-Neuropsychologe Oliver Sacks einige der Überlebenden der Schlafkrankheit, die in einer New Yorker Nervenheilanstalt als verkrümmte, selbstvergessene menschliche Wracks vegetieren, mit L-Dopa.

Levodopa

L-Dopa (oder Levodopa) ist ein Prodrug, welches der Körper in Dopamin umwandeln kann: in einen für die Weiterleitung von Nervensignalen unerlässlichen Botenstoff. Der neu entdeckte Wirkstoff (der bis heute bei Parkinsonkranken eingesetzt wird) vollbringt auch bei den Überlebenden der Schlafkrankheit wahre Wunder: Nach Jahrzehnten der Starre und Selbstvergessenheit erwachen sie zu neuem Leben. Kann man sich das rauschhafte Glück vorstellen, welches den Familien zuteil wird, die ihre verloren geglaubten Lieben nach Jahrzehnten der Grabesruhe wieder sprechen, lachen, leben sehen?

Doch so viel Spoiler sei erlaubt: Man überschwemmt nicht unbestraft stark beschädigte und kaum noch funktionsfähige Nervenzellen mit einem Dopamincocktail. Nach einer wahrhaft wundersamen Aufwachphase treten unkontrollierbare Reaktionen auf. Die Zurückgekehrten bezahlen mit grausamen Wahnvorstellungen, Verwirrung, entwürdigenden motorischen Störungen und Verfolgungsängsten für das kurze Glück. Die Wirkung der Medizin ist schlicht unberechenbar, die Dosierung bleibt ein Selbstläufer. Die tragische Eigendynamik ist kaum in den Griff zu bekommen und endet in vielen Fällen erst mit dem Tod der Patienten.

Sacks Vorgehensweise erscheint aus heutiger Sicht unverantwortlich. Doch berücksichtigt man den Zeitgeist der 60-er Jahre, jener Zeit, in der man noch dem naiven Glauben an eine lineare pharmazeutische Wirkung anhing, spürt man sofort die Versuchung, ihn vom Vorwurf der Leichtfertigkeit freizusprechen. Es ist klar erkennbar, wie sehr er um seine Patienten bemüht ist. Er will ihnen helfen und sie verstehen. Er betrachtet sie in erster Linie als Menschen – nicht als Versuchskaninchen. Er weiß viel über ihren biografischen Hintergrund, ihren früheren Charakter, ihre familiären Verhältnisse. Sie werden für ihn im Laufe ihres Leidensweges zu Freunden, oft sogar zu Lehrern, von denen er Ruhe, die Akzeptanz von Schicksalsschlägen, Mut und Risikobereitschaft lernt. Während er ihre oft absurd-tragischen Schicksale beschreibt, vergisst er keinen Augenblick, ihnen mit Respekt und menschlicher Wärme zu begegnen.

Das Buch geht somit weit über das Medizinische hinaus und veranschaulicht durchaus auch mit literarischem Anspruch

  • die Totenstille der Unbeweglichkeit, in der die Erkrankten jahrzehntelang verharrten. „Mein Geist war wie ein stiller Teich, der sich selbst widerspiegelt“ – so die Selbstdarstellung eines der Patienten.
  • Die kaum meisterbare Herausforderung, mit den unberechenbaren Wirkungen von L-Dopa zurechtzukommen, sich selbst als „unguided missile“ zu akzeptieren.
  • Und nicht zuletzt den unvorstellbaren psychischen Druck, den die komplett veränderte Lebenssituation nach der L-Dopa-Behandlung mit sich bringt. Man stelle sich nur vor, wie es sein muss, als junges Mädchen in einen Dornröschenschlaf zu fallen, um Jahrzehnte später als alte Frau aufzuwachen. Wie kommt man (noch dazu mit einem schwer angeschlagenen Nervensystem) mit dieser Veränderung zurecht? Kann man sich mit dem neuen Ich identifizieren? Wie den Anschluss an die verlorenen Jahre, an die veränderte Welt, die einst geliebten und doch so fremden Menschen wiederfinden?

Es überrascht nicht, dass nur wenige der Behandelten den Kraftakt meistern, den permanenten Zusammenstoß mit einer dermaßen fremden Realität zu verkraften. Tragödien sind vorprogrammiert.

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Sacks, der die Erkrankten in ein neues, menschenwürdiges Dasein hinüberführen wollte, beschreibt 20 ausgesuchte Fälle sichtbar schockiert, mit sehr viel Einfühlungsvermögen und gut verständlichen Fachdetails. Die deutsche Übersetzung des Buches ist sehr schön und lässt den gelegentlich schwierigen Stoff doch flüssig lesen.

Fazit: eine große Empfehlung an alle, die sich für Fragestellungen wie Was ist gesund und was ist krank? Wie soll man und wie darf man nicht heilen? interessieren. Nichts für Fußnotenhasser.

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Zwei weitere Empfehlungen:

Oliver Sacks, ein gebürtiger Brite, der Jahrzehnte lang in den USA lebte und arbeitete, war der Enfant terrible der Neuropsychologie – ein Image, mit dem er auch in seiner Autobiographie „On the move – Mein Leben“ sehr publikumswirksam kokettiert. Wir erfahren in dieser nicht nur von seinen familiären Problemen, seiner zeitweisen Drogensucht und seiner kurzen aber exzessiven Karriere als Bodybuilder – er berichtet auch sehr unterhaltsam von seinen ausgedehnten Motorradtouren durch Amerika.

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Im Vordergrund bleibt aber immer sein bedingungsloses Engagement, Menschen zu heilen, sie zu verstehen. Seine Patienten in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen – nicht als Kranke, sondern als Individuen mit einer geänderten Wahrnehmung – einem Bewusstsein, das, wenn auch der Norm widersprechend, oft neue Möglichkeiten der Erkenntnis bietet. „Eine winzige Kleinigkeit“, schreibt er, „ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt.“ Und er ist bereit, seine Patienten vorbehaltlos in diese andere Welt zu begleiten. Diese besondere Empathie für seine Patienten ermöglicht es ihm, Fallstudien zu schreiben, die weit über das Medizinische hinausgehende Fragen stellen und diese auch tiefgründig erörtern.

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Eine Sonderform dieser Fallstudien stellt sein Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ dar. Hier ist er Arzt und Patient zugleich. Der Leser taucht, nach einer faszinierenden Beschreibung des Unfallherganges (Sacks ist ein begnadeter Geschichtenerzähler) gleich in die Welt der verschobenen Wahrnehmung ein. Sacks erleidet zwar „nur“ einen Sehnenabriss, dieser bewirkt jedoch, dass er jegliches Gefühl für sein Bein verliert. Was passiert aber, wenn eine lokale Verletzung eine massive Bewusstseinsstörung verursacht? Wie kann man dies der Umwelt verständlich machen? Dass dies fürs Erste nicht einmal dem äußerst artikulierten und gut informierten Arzt-Patienten gelingt, lässt erahnen, in welch schwieriger Situation sich „Laien“ nach einem Unfall wiederfinden können. Ein sehr spezielles Thema mit einigen Längen, aber durchaus lesenswert.

5 Gedanken zu “Oliver Sacks: Zeit des Erwachens

  1. Danke für diese wunderbare Zusammenfassung des Lebens und Werkes von Oliver Sacks, liebe Andrea. Er und sein Werk faszinieren mich auch schon seit langem, und sein Tod war ein großer Verlust. Er ist wie wenig andere der Seele der Menschen auf den Grund gegangen. Dieser Post motiviert mich, mal wieder auf seine Bücher zurückzugreifen.
    Herzliche Grüße,
    Tanja

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    • Liebe Tanja, danke für deine, wie immer sehr netten Worte. Eigenartig, dass du seinen Tod erwähnst. Vor einigen Jahren (ich glaube 2015 war es) habe ich seine Autobiographie gelesen. Danach habe ich auch im Internet über ihn recherchiert und folgte seiner facebook-Seite. Ich war sehr happy: jetzt würde ich immer wieder von ihm lesen! Am nächsten Tag brachten die Nachrichten seine Todesnachricht… ich habe noch nicht alles von ihm gelesen, aber sein Buch über Migräne würde mich zum Beispiel sehr interessieren.
      Liebe Grüße,
      Andrea

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  2. Ein wirklich toller Artikel, den ich (jetzt zum zweiten Mal) sehr gerne gelesen habe. „On the Move“ möchte ich unbedingt noch lesen, ich habe fast alle Bücher von Oliver Sacks gelesen und finde sie nach wie vor sehr faszinierend. Ganz liebe Grüße, Sabine

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    • Vielen Dank Sabine, es freut mich sehr, wenn dir mein Text gefallen hat. Ich vetsuche gerade „Migräne“ zu lesen. Sclafe aber immer nach 10 Minuten ein. Aber ich glaube das liegt eher daran, dass ich gerade auf Skiurlaub und entsprechend erschöpft bin. 😊 Liebe Grüße, Andrea

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  3. Danke dafür! Ich habe ehrlich gesagt noch nie von Oliver Sacks gehört oder gelesen, *shameonme; und jetzt kann ich es gar nicht erwarten, meine Goodreads-Liste aufzufüllen!
    Liebe Grüße 🙂

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