In unserer Familie gibt es geteilte Meinungen über Vincent van Gogh. Die Bessere Hälfte, glühender Anhänger fast zwanghaft positiven Denkens, kann wenig mit dem tragischen Selfieking des ausgehenden 19. Jahrhunderts anfangen. Zu inflationär sei seine Bilderflut, findet er, zu repetitiv seine Darstellungen. Die Minderjährige wiederum, mit einem feinen Gespür für alles Tiefgründige und Tragische ausgestattet, liebt Vincent van Gogh seit jenem magischen und sehr langen Nachmittag, an dem sie ihm im Van Gogh Museum in Amsterdam das erste Mal begegnet ist. Als hätte van Gogh über sie geschrieben:
Da ich in diesem tiefen, mysteriösen Brunnen von Herzleid gewesen bin, besteht ein Schatten von Möglichkeit, dass ich dir etwas Nützliches sagen kann.
Sie spürt es. Und ich spüre es auch. Entsprechend groß ist unsere Begeisterung, als wir von „Loving Vincent“ hören. Einem Animationsfilm, der, entstanden aus 65.000 Ölgemälden, einen noch nie dagewesenen, poetischen Ausflug in van Goghs Welt verspricht.
Ein handgepinselter Film, der, in Zeiten der digitalen Explosion, künstlerisch wie ökonomisch fast schon an den van Gogh´schen Wahn heranreicht – das will sich die Bessere Hälfte auch nicht entgehen lassen und so schließt er sich den Kino-Abenteurern an.
Unsere Erwartungen sind groß. Denn wer würde nicht durch das gelbe Haus in Arles oder das berühmte Nachtcafé schlendern, wer nicht entlang der Weizenfelder von Auvers-sur-Oise wandern wollen? Die Filmemacher versprechen ein Eintauchen in die Welt van Goghs. Dafür haben 125 ausgesuchte Maler 130 van Gogh Gemälde in langwieriger, kostspieliger und vor allem liebevoller Handarbeit (12 Ölgemälde pro 10 Sekunden Film) zu neuem Leben erweckt und, hat man sich an die flimmernde, vibrierende Qualität dieser wunderbar altmodischen Animationstechnik gewöhnt, so kommt man nicht aus dem Staunen, an dieser faszinierenden Zeitreise teilnehmen zu dürfen.
Das ästhetische Versprechen hält der Film demnach mit jeder Sekunde. Manche mögen vielleicht etwas kleinlich fachsimpeln, wieviel Rotoskopie in der Zaubertechnik liegt, aber uns persönlich ist es vollkommen egal – wir lassen uns an der Hand nehmen und genießen die Sogwirkung der Bilder- und Farbenpracht.
Denn voilà, man findet sich gleich im Frankreich des 19. Jahrhunderts wieder. Hier, ausgehend von Arles, entfaltet sich eine doch recht einfache Geschichte, die auf drei Ebenen zusammengefasst werden kann.
Erste Ebene: Der Zustellversuch eines Briefes
(Wann wurde jemals einem solch unpoetischen Vorgang ein ganzer Film gewidmet?)
Der Postmeister von Arles, Monsieur Roulin, Verehrer und treuer Freund van Goghs, beauftragt seinen widerwilligen Sohn, den letzten Brief des verstorbenen Vincents an dessen Bruder, Theo van Gogh zu übermitteln. Armand Roulin, genervt vom etwas alkoholgeschwängerten Idealismus seines Vaters, fährt nach Paris, um Theo aufzuspüren.
Zweite Ebene: ein konventioneller Kunstkrimi – aber dafür in Form von Interviews mit Gemälden!
In Paris erfährt Armand, dass Theo bereits verstorben ist. Gleichzeitig erwacht sein Interesse an Vincent. Was ist ihm in den letzten Wochen seines Lebens zugestoßen? Welche Erfahrungen, welche Gefühle oder gar welche Menschen haben ihn in den Tod getrieben? War es wirklich Selbstmord? Oder vielleicht sogar Mord? Er sucht zahlreiche Zeugen auf. Hier kommen die Begleiter, Bekannten und Modelle Vincents letzten Lebensabschnittes zu Wort.
Irgendwie gelingt es jedoch den Filmemachern nicht, eine richtige Krimistimmung aufkommen zu lassen. Armand stellt seine Fragen und stellt Vermutungen auf und es gibt viele Auskünfte und natürlich auch welche, die einander widersprechen, aber der versuchte Spannungsbogen kommt recht tollpatschig daher. Er muss vor der Ästhetik der Bilder kapitulieren. Man hört diesen letzten Begleitern Vincents zu und will sich nicht gruseln. Man ist nur froh, durch sie van Gogh, seinen Gefühlen, seinen letzten künstlerischen Zeugnissen nahe sein zu können.
Und das ist die Schwäche, gleichzeitig aber auch die Stärke des Filmes. Denn der Krimifaden, ob Mord oder Selbstmord, ist letzten Endes nur ein formelles Narrativ, ein Vorwand für die
Dritte Ebene: Eine Liebeserklärung an van Gogh
…an seine Genialität, sein tiefes Mitgefühl mit allen Kreaturen, seinen Wahnsinn, der aber beinahe natürlich anmutet, angesichts seiner widrigen Lebensumstände.
In unserer Seele kann ein großes Feuer brennen, und doch kommt nie jemand, um sich daran zu wärmen, und die Vorübergehenden sehen nur eine leichte Rauchwolke aus dem Kamin aufsteigen und gehen ihres Weges.
Gleich ob Figur oder Landschaft, ich möchte nicht sentimentale Schwermut ausdrücken, sondern ernsten Kummer.
Du siehst, was ich gefunden habe: Meine Arbeit; und du siehst auch, was ich nicht gefunden habe – alles Übrige, was zum Leben gehört.
Armand fragt also herum, denn
Es ist nicht recht, nur eine Sache zu kennen – man wird dumm davon; man sollte nicht ruhen, bis man auch das Gegenteil kennt.
Und so entdeckt er – wenn auch nicht unbedingt des Rätsels ultimative Lösung, aber den Menschen Vincent van Gogh. Seine Empathie, seine Einsamkeit, das Diktat intensivstem schöpferischen Dranges, der ihm keine Erholung von seiner künstlerischen Arbeit erlaubt, das Unverständnis seiner Mitmenschen, seine Ängste um seinen Bruder, dessen Familie, Krankheit, finanzielle Engpässe.
Ob es Mord war oder Selbstmord? Es ist, angesichts der vielen Aspekte der doch recht wandelbaren Wahrheit, die Armand zu Tage fördert, fast schon egal. Vielleicht wollte Vincent einfach nur heim. Heim zu einem Stern, der für ihn überirdische Vollkommenheit repräsentierte.
Wir können nicht zu einem Stern gelangen, solange wir am Leben sind, ebenso wenig wie wir den Zug nehmen können, wenn wir tot sind.
Das leuchtet doch ein.
Vincent stirbt. Und jetzt folgt ein wunderbar poetischer Abspann. Die Regisseurin Dorota Kobiela lässt noch einmal alle Darsteller: Gemälde, wie Schauspieler defilieren. Zur berührenden Musik von Lianne La Havas ziehen Armand Roulin (Douglas Booth), Adeline Ravoux (Eleanor Tomlinson), Doctor Gachet (Jerome Flynn), Marguerite Gachet (Saoirse Ronan), Monsieur Roulin (Chris O´Dowd), Pere Tanguy (John Sessions), Louise Chevalier (Helen McCrory) vorbei und spätestens jetzt müssen sich alle in Van Gogh verlieben, seine feinfühligen und auch literarisch beeindruckenden Briefe lesen, in Museen mit seinen Werken pilgern wollen, was das erklärte Ziel Kobielas ist. Mission accomplished.
Später, als ich den Titelsong herunterlade, befindet die Minderjährige etwas streng, dass er doch recht kitschig sei. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch solle jeder für sich entscheiden. Hier der Link.
written by Don Mclean • Copyright © Universal Music Publishing Group
Bilder: Copyright © 2013-2018 Loving Vincent
Zitate: aus Briefen Vincent Van Goghs
Und hier noch ein Link zu einem spannenden making of.
Ich hatte mir die ganze Zeit überlegt, ob es sich lohnt, reinzugehen. Danke für deine Eindrücke, jetzt weiß ich, dass ich ihn ziemlich sicher mögen werde.
Musik: Ich fand das Original von Don McLean schon immer ziemlich tränendrüsig … 😉
Liebe Grüße
Christiane
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liebe andrea,
dein beeindruckender beitrag macht appetit auf den film.
starry starry night: höre dir doch bitte die orignialversion von Don McLeans aus dem jahr 1971 an.
lg Karlheinz Mistlbachner
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Lieber Karlheinz Mistlbachner,
Vielen Dank für den Hinweis! Das Original habe ich wahrscheinlich schon mal im Radio gehört, aber ich habe dem Text nie richtig zugehört. Ich wußte gar nicht, dass es sich dabei um VvG handelt und dachte, das Lied in der neuen Version hätte einen neuen Text bekommen für den Film. So kann man sich täuschen 🙂 Ich finde es aber großartig, dass jemand einem Maler ein Lied widmet. Kommt nicht sehr oft vor.
Liebe Grüße
Andrea
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Liebe Andrea,
von dem Film, der sich faszinierend anhört, hatte ich noch nichts gehört. Danke für diese einfühlsame Vorstellung und Empfehlung. Ich würde ihn mir auch gerne ansehen.
Es freut mich, daß Dich wieder ein Thema zum Schreiben inspiriert hat. Ich wünsche Dir alles Gute für das neue Jahr.
Herzliche Grüße,
Tanja
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Liebe Tanja, vielen Dank und auch dir und deinen Lieben alles Gute für das neue Jahr! Der Film ist wirklich sehr schön (schon allein wegen der sehr innovativen Technik) und man merkt die ganze Zeit, dass van Gogh der der Regisseurin wirklich eine Herzensangelegenheit ist. Das verleiht dem Film eine sehr authentische Wärme.
Liebe Grüße, Andrea
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Pingback: Loving Vincent — | MacCoach
Für mich ist der Film 100%ig aufgegangen. Ich fand auch die schauspielerische Leistung toll, und das, was Du „Krimi“ nennst, hat mich total in den Bann gezogen und die Auflösung war genial. Ein toller Film!
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Toller Artikel über einen grandiosen Film, den ich gestern zum Glück endlich gesehen habe. Und danke für den Link zum Making Off. Sehr interessant 🙂
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Vielen Dank, es freut mich sehr, wenn dir mein Artikel gefallen hat! Wenn dich der Van Gogh Film begeistert hat, könnte dich vielleicht auch „Die Mühle und das Kreuz“ interessieren. Eine ganz andere Technik, aber auch eine sehr spannende Auseinandersetzung mit Kunst. Liebe Grüße, Andrea
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«Some people never go crazy. What truly horrible lives they must lead.»
Buk wusste wovon er spricht.
Und ja: Don McLean definitely!
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