20. Februar – Throwbackmonday mit Sándor Márai

Es ist der 20. Februar 1986. Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai trauert an seinem Exil-Wohnsitz im amerikanischen San Diego um seine kurz zuvor verstorbene Ehefrau Lola. Einsam und immer mehr von der Außenwelt abgeschottet gehört er zu jener Generation europäischer Intellektueller, denen durch die blutigen Wirren des 20. Jahrhunderts immer wieder der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ihr unfreiwilliger Einsatz: die produktivsten Jahre ihres Lebens. Und ihr Lohn: eine schier endlose Odyssee, Entwurzelung, Verlust der Heimat und der Möglichkeit, in der Muttersprache zu publizieren.

Geboren 1900 in Kaschau (damals Österreich-Ungarn, heute Slowakei), hatte Márai deutsche und ungarische Vorfahren. Er wuchs in einem liberalkonservativen Elternhaus auf. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde seine Heimatstadt der Tschechoslowakei zugesprochen. Der erste Verlust der Heimat. Er übersiedelte nach Budapest, verließ die Stadt jedoch 1919 nach der gewaltsamen Machtübernahme des Kommunisten Béla Kun. Verlust Nr. 2.  Er studierte in Deutschland und erwarb sich dort erste Lorbeeren als Essayist, Korrespondent und Lyriker. Danach ließ er sich mit seiner Frau Lola in Paris nieder, wo er u.a. für die Frankfurter Zeitung und das Prager Tagblatt tätig war.

1928 kehrte er nach Ungarn zurück, wo seine produktivste Schaffensperiode begann. Diese wurde von der Zäsur Nr. 3, der Machtübernahme der Nazis, unterbrochen – er war nicht bereit „unter deutscher Besatzung seine Arbeit zu tun“. Die politische Tragödie des Landes wurden von familiären Schicksalsschlägen begleitet: Lola entstammte einer jüdischen Familie. Ihr Vater und zahlreiche weitere Verwandte wurden Opfer des Holocaust. Márai und Lola überstanden den Zweiten Weltkrieg in einer Künstlerkolonie außerhalb Budapests. Ihre Wohnung inkl. der Bibliothek mit 6.000 Büchern wurde im Zuge der Besetzung der Stadt durch die Sowjetarmee zerstört.

Nach dem Krieg nahm Márai aktiv Anteil am gesellschaftlichen und literarischen Leben Ungarns. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 musste er jedoch erneut ins Exil – diesmal für immer. Er ließ sich zunächst in Italien nieder. Von Neapel aus arbeitete er für zahlreiche ungarischsprachige Exilzeitungen auf der ganzen Welt und für das Radio Freies Europa. In den 50er Jahren erhielt er das Angebot, US-Bürger zu werden. Die Familie (Márai, Lola und ihr Adoptivsohn) übersiedelten nach New York.

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Hier wurde die Entwurzelung vollendet: ohne Verlagsverbindungen, mit Ungarn als geistigem Mittelpunkt versiegte auch die literarische Tätigkeit Márais. Er nahm zwar Anteil am politischen und literarischen Geschehen seines Heimatlandes und Heimatkontinentes, aber dies fand zum größten Teil nur mehr in seinen Tagebüchern Niederschlag. Hier schrieb er über Zeitgenossen, Tagespolitik, seine Lektüre, ließ aber auch Erinnerungen und Reflexionen zu großen Fragen der Kunst und des Lebens einfließen. Sehr desillusioniert heißt es dort:

Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Werde ich dann mehr wissen? Glücklicher sein? Genaueres über Gott, die Menschen, die Natur und Übernatürliches vermuten? Ich glaube, nein; Erfahrungen verlangen Zeit, aber über ein bestimmtes Wissen hinaus vertieft die Zeit die Erfahrungen nicht. Ich werde einfach älter, nicht mehr und nicht weniger.

Márai verstand das Format Tagebuch (im Gegensatz z.B. zu Thomas Mann) durchaus als literarische Gattung. Seine Texte sind sowohl intellektuell als auch sprachlich von höchster Qualität – auch in seinen letzten Jahren, als seine thematische Vielfalt zusehends eingeengt wurde, bis nur mehr der Todeskampf der geliebten Partnerin, Trauer, Einsamkeit und Depression übrig blieben.

So auch an diesem 20. Februar 1986.

20. Februar

Die Weihnachtsabende. 63mal Weihnachten. In Berlin, Paris, Florenz, Kaschau, Neapel, New York, Salerno, San José, San Diego. Und anderswo. Immer zusammen. Das letzte Weihnachtsfest jetzt vor zwei Monaten im Krankenhaus von San Diego. Sie sah und hörte nicht mehr, sie war nicht bei Bewußtsein, aber sie wußte, daß ich bei ihr bin und ihre Hand halte.

Der Zorn. Keine Rührung, kein Sinnieren, nichts. Aber Zorn. Manchmal brüllender Zorn. Weil sie gestorben ist. Zorn auf den Arzt, weil er nicht helfen konnte. Zorn auf Gott (so es ihn gibt), weil er nicht half, und Zorn auf Gott (so es ihn nicht gibt), warum es ihn nicht gibt, wenn Hilfe gebraucht wird. Zorn auf die Menschen, weil sie nicht halfen. Und auf mich, weil ich nicht mehr tun konnte. Zorn auf sie, weil sie gestorben ist. – Der Zorn. Die Scham, daß ich hier die Zeit stehle, nutzlos.

Abends um sieben. Um diese Zeit, wenn ich vom halbstündigen Abendspaziergang heimkam, zerknitterte und glättete sie mit beiden Händen das Betttuch, immer wieder sie sah und hörte nicht mehr, sie hatte den Krebs in der Kehle und konnte nicht sprechen, das Betttuch zu glätten war die letzte Möglichkeit, etwas zu tun. „Ordnung machen“, sagte sie manchmal. Aber was ordnen? Das Leben? Den Tod? Und immer wieder: „Wie langsam ich sterbe“.

Habe ich sie geliebt? Ich weiß es nicht. Liebt man seine Beine, seine Gedanken? Nur hat eben nichts einen Sinn ohne die Beine oder die Gedanken. Auch ohne sie hat nichts einen Sinn. Ich weiß nicht, ob ich sie „geliebt“ habe. Es war anders. Ich „liebe“ auch meine Niere und meine Bauchspeicheldrüse nicht. Nur sind eben auch sie beide ich, wie auch L. ich war.

Ich will nicht sterben, noch nicht. Aber ich habe den Revolver in den Nachttisch gelegt, damit er zur Hand ist, wenn ich sterben will. Kann jedoch sein, auch das wird anders. Alles ist anders.

Die Trauer wurde nun sein treuer Wegbegleiter: Im November desselben Jahres starb sein Bruder, im April 1987 sein Adoptivsohn.

Sein letzter Tagebucheintrag stammt vom 15. Jänner 1989:

Ich warte auf den Stellungsbefehl, bin nicht ungeduldig, will aber auch nichts hinauszögern. Es ist Zeit.

Der Stellungsbefehl traf wohl am 22. Februar 1989 ein.

Márai gehört heute zu den gefeierten Schriftstellern. Sowohl in Ungarn als auch im deutschsprachigen Raum erzielte er beachtliche Erfolge, vor allem mit seinem Roman „Die Glut“. Ich persönlich gehöre zwar nicht zu seinen größten Fans, habe aber einen großen Respekt vor seinem Intellekt und der Haltung, mit der er seinem durch Kriege, Aufstände und blutige Machtübernahmen geschundenen Leben Würde und Sinn verlieh.

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Die Zitate entstammen folgender Ausgabe: Tagebücher 1984-1989; Sándor Márai; ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki; Piper

17 Gedanken zu “20. Februar – Throwbackmonday mit Sándor Márai

  1. Schön wie stets – ich freue mich über jeden zurückgeworfenen Montag sehr 🙂 Von Márai habe ich auch nur „Die Glut“ gelesen (während eines Besuchs in Budapest natürlich). Gefiel mir gut, ohne dass ich wirklich was damit anzufangen vermochte. Komisch eigentlich 🙂 Liebe Grüße!

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  2. Damit werde ich mich demnächst mal intensiver beschäftigen.
    Vielen herzlichen Dank, Andrea, für diese guten Einblicke in Marais Leben und Schaffen.

    Herzliche Grüße
    Sylvia

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      • Ich werde mich nun gleich mal um Bücher bemühen. Vielleicht schlage ich sie auch Anne-Marit Strandborg vor (der Dauerleserin und Rezensentin) – so kann man sich gegenseitig austauschen.

        Hab einen schönen Abend und nochmals herzliche Grüße aus der Nähe von Meißen,

        Sylvia

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  3. Ja, leider sind einige seiner Bücher einen Hauch „kitschig“ oder sagen wir ein wenig altmodisch-sentimental-melancholisch … wobei ich so eine Vermutung habe, dass das auch ein Teil ungarischer Mentalität ist. Dennoch aber: Seine Tagebücher zeugen, wie Du auch schreibst, von seinem Intellekt. Ich lese gerade ein ganz anderes Buch von ihm für unser #lithund-Projekt: „Ein Hund mit Charakter“. Auch da wird spürbar, was er wohl für ein Mensch war (ein großartiger, selbstreflektierter) und wie eng die Bindung zu seiner Frau war. Ein schöner Beitrag über einen, den ich – trotz des leichten Kitschanteils – gerne gelesen habe! Liebe Grüße, Birgit

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    • Ja, altmodisch-sentimental trifft es perfekt! Wobei ich nicht denke, dass dies ein typisch ungarischer Wesenszug ist. Vielleicht war´s auch ein wenig der Zeitgeist. Die (mittlerweile auch nicht mehr) neue Generation Esterházy, Nádas oder aber auch Kertész haben bzw. hatten ihn gar nicht. Liebe Grüße, Andrea

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  4. Kürzlich fand ich in meinem Lieblings-Second-Hand-Buchladen Sándor Márais „Die Gräfin von Parma“ in der Übersetzung aus dem Ungarischen von Renée von Stipsicz-Gariboldi aus dem Piper Verlag, München 2002. („Vendégjáték Bolzánóban, Budapest 1940; frühere Übersetzungen „Ein Herr aus Venedig“, 1943, und „Begegnung in Bolzano“ 1950). Der Piper Verlag bewirbt den Roman mit diesem Kurztext:

    „Von der Liebe und ihrer Vergänglichkeit

    Den Verliesen Venedigs entflohen, bezieht der vornehme Fremde Quartier in Bozen. Als er erfährt, dass auch der Graf von Parma mit seiner bezaubernden Frau in der Nähe weilt, ist es um seine Ruhe geschehen. Denn Francesca ist die einzige Frau, die ihn je wirklich berührt hat. Einer der berühmtesten Romane Sándor Márais erzählt von der Liebe und deren Vergänglichkeit – und von der Utopie eines dauerhaften Lebensglücks.“

    Nach den obigen Tagebuch-Notizen wäre zu fragen, ob hier eine literarische Variation über das Lebensglück des Autors vorliegt.

    Dies ist ein Buch aus einer anderen Zeit über eine weitere zurückliegende Geschichte, und gleichwohl finde ich in ihr – jenseits kitschiger Anmutungen – nicht nur eine spannende Erzählung, sondern auch einige Einsichten, Wahrnehmungen und Gedanken, die mir beim Nachblättern ebenso gelungen und bemerkenswert wie geradezu überzeitlich formuliert erscheinen. So über den „fremden Mann“ (S. 28 – 30), den Schmerz, „wenn unsere Träume Gestalt annehmen“ (S. 111) oder die Selbsterfahrung des Liebenden (S. 129).

    Wenn „Die Glut“ oder ein anderes Werk von Sándor Márai mal wieder im Fenster des Lieblings-Second-Hand-Buchladens liegt, werde ich gerne zugreifen und von ihm weiter lesen.

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  5. Pingback: Blogbummel Februar 2017 – buchpost

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