21. November – Throwbackmonday mit Lena Muchina

Es ist der 21.11.1941 – die 17-jährige Lena Muchina sitzt in Leningrad fest und hungert. Und friert. Es ist der Blockadewinter 1941/42, dem Millionen Zivilisten zum Opfer fallen. Lena führt seit Mai 1941 Tagebuch. Dieses beginnt mit eher harmlosen Eintragungen über schulische Minderleistungen, Misserfolge auf dem Gebiet der Liebe, kleinere Zankereien mit ihren Freundinnen und Schulkollegen. Die Aufzeichnungen werden aber im Laufe der Zeit immer dramatischer – obwohl sie den kindlich-naiven Unterton nicht verlieren.  Das Schulwesen bricht zusammen, Brennmaterial wird knapp, die Lebensmittelversorgung wird immer schwieriger, die Menschen verrohen zusehends. Der Hunger überschattet alles. Und mit ihm die fast schon mantramäßig wiederholten Pläne von Lena, wie sie ihre Lebensmittelkarten besser einteilen, wann und wie zu einem sättigenden Essen kommen könnte.

Lena lebt mit ihrer Ziehmutter (ihre leibliche Mutter ist gestorben) und einer älteren Verwandten, die sie Aka nennt. Männer sind in der Familie nicht präsent, werden aber auch nicht erwähnt – sie alle sind wohl bereits gefallen, die Frauen müssen allein zurechtkommen.

Der Kampf ums Überleben wird immer härter, Hilfestellung unter einander spärlicher. Lena beschreibt die Blockade detailreich und unmittelbar, jenseits aller Mythen, ihre Erinnerungen sind von zeitlicher Distanz nicht überformt.  Man merkt, wie ihre Situation als Sowjetschülerin ihre Denkweise prägt, wie wenig es ihr oft gelingt, sich im Dschungel der Propaganda zurechtzufinden. Sie stellt hohe menschliche Anforderungen an sich, denen sie unter dem Druck der brutalen Entbehrungen oft nicht gerecht werden kann. Der Leser fiebert mit ihr mit und sogar ihr wenig ausgeprägtes schriftstellerisches Talent kommt dem Tagebuch zugute. Die Aufzeichnungen sind dermaßen unmittelbar, dass man die Blockade mitzuerleben glaubt – aus der Sicht der Schwächsten. Und dies ist das oft vergessene, aber deswegen nicht weniger wahrhafte Gesicht des Krieges.

 21.11.1941

Heute habe ich Geburtstag. Ich bin 17 geworden. Ich liege mit erhöhter Temperatur im Bett und schreibe. Aka ist losgegangen, um irgendwo Butter, Getreide oder Nudeln aufzutreiben. Wann sie zurückkommt, weiß ich nicht. Vielleicht kommt sie mit leeren Händen zurück. Aber ich bin trotzdem zufrieden, heute Morgen hat mir Aka meine 125g Brot und 200g Bonbons gegeben. Das Brot habe ich schon fast ganz gegessen, was sind schon 125g, das ist eine kleine Scheibe, aber die Bonbons muss ich irgendwie auf zehn Tage verteilen. Erst habe ich mit täglich drei Bonbons gerechnet, aber ich habe schon neun Stück gegessen, deshalb habe ich beschlossen, zur Feier des Tages noch vier Bonbons zu essen und ab morgen die Ordnung streng einzuhalten und täglich nur zwei Bonbons zu essen.

Die Lage in unserer Stadt bleibt sehr angespannt. Wir werden aus Flugzeugen bombardiert, aus Geschützen beschossen, aber das ist noch gar nichts, wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir uns selbst darüber wundern. Aber dass unsere Verpflegungssituation sich mit jedem Tag verschlechtert, das ist furchtbar. Wir haben nicht genug Brot. Man muss England danken, sie schicken uns einiges. So zum Beispiel Kakao, Schokolade, Bohnenkaffee, Kokosmilch, Zucker – das kommt alles aus England, und Aka ist sehr stolz darauf. Aber Brot, Brot, warum schickt uns niemand Mehl? Die Leningrader müssen Brot essen, sonst sink ihre Arbeitskraft. Alle sagen, und im Radio wird von nichts anderem geredet, dass wir den Feind bald von Leningrad vertreiben werden, dass es nun nicht mehr lange dauert. Und sobald der Feind vertrieben ist, werden sich Ströme von Lebensmitteln nach Leningrad ergießen. Aber so lange müssen wir durchhalten. Wir halten ja auch durch, aber das ist so schwer. Manchmal verzweifelt man auch, manchmal denkt man, nein, wir werden alle wie die Fliegen verrecken, wir werden den hellen Tag des Sieges nicht mehr erleben. Aber solche Gedanken muss man verscheuchen. Das sind schädliche Gedanken. Mein Gott! Wie sehr wünsche ich mir, dass Aka und Mama Lena und ich, dass wir alle diese schwere Zeit wohlbehalten überstehen und wieder frei atmend leben können! Wie sehr wünsche ich mir, dass Mama wieder zunimmt und Aka sich auch gut fühlt. Ich habe solche Angst um Mama und Aka. Denn echten Hunger werden sie nicht überleben. Und wir wissen ja nicht, was uns noch erwartet. Vielleicht wird Brot nur noch jeden zweiten oder jeden dritten Tag ausgegeben, und in den Kantinen wird es nichts mehr geben. Was dann? Aber nein, das dürfen sie nicht zulassen! England und die USA müssen uns mit Nahrungsmitteln versorgen. Das liegt doch in ihrem Interesse, dass die Deutschen eine Niederlage bei Leningrad erleiden. Weil ein Sieg bei Leningrad doch die beste Hilfe für Moskau ist! Und die Zerschlagung der Deutschen bei Moskau wird den Tag näher bringen, an dem es eine Wende in diesem historischen Krieg gibt, nämlich den Beginn des Rückzugs des Feindes. Das soll bitte bald, ganz bald geschehen! Jeder Tag bringt neue Hoffnung darauf, dass der feindliche Ring um Leningrad durchbrochen wird…

… Bald wird Aka zurückkommen, frierend, müde und wahrscheinlich mir leeren Händen. Das ist das Ende. Sie wird erfahren, dass Tamara nichts mitgebracht hat, und ich weiß nicht, wie sie das verkraften wird. Und später wird Mama kommen, müde und hungrig, sie wird versuchen, heute früher heimzukommen, sie weiß, dass ich heute Geburtstag habe und was, o Gott, wäre, wenn Aka nichts zu essen machen kann? Ja da werden wir meinen Geburtstag so richtig „feiern“. Nein, ich werde Tamara weder vor Aka noch vor Mama verteidigen, aber ich will auch nicht über sie schimpfen. Sie hat Pech gehabt, denn was passiert ist, ist ein Unglück, es wäre genauso, als wenn man ihr die Lebensmittelkarten gestohlen hätte oder etwas Ähnliches. Jedem kann so ein Unglück zustoßen…

…Also, jetzt kann ich auch das Stückchen Brot essen, das ich für die Frikadelle aufbewahrt habe. Und dann könnte ich versuchen einzuschlafen, bis morgen zu schlafen.

Meine liebe, über alles geliebte Mama wird hungrig nach Hause kommen. Ich werde sie an mein Herz drücken, fest, ganz fest drücken und ihr von dem über uns hereingebrochenen Unglück berichten. Sie wird nicht böse sein, glaube ich. Sie wird wahrscheinlich schon irgendwas gegessen haben. Sie soll nur nicht böse sein, mir den Feiertag nicht verderben. Mehr will ich nicht. Wir werden ein Glas Wein trinken und dann Tee mit Bonbons.

Bloß nicht streiten, alles soll bloß harmonisch und friedlich sein. Das ist mein größter Wunsch.

Es ist schon halb sieben, aber Mama ist immer noch nicht da. Durch das Fenster hört man unsere Flak verwegen feuern, der zweite Alarm dauert an. Hitler will uns heute eine richtige Tracht Prügel verpassen, für gestern und für heute.

Ja, so wie ich gedacht hatte, ist es auch gekommen. Um fünf Uhr kam Aka, müde, verfroren, mit leeren Händen nach Hause. Sie hat nach Nudeln angestanden, und es hat nicht mehr für sie gereicht. Tante Sascha war eher dran, die hat welche Abbekommen, aber Aka nicht mehr. Tante Sascha hat Aka nicht mal angeschaut. Was für ein Mensch! Hat das alte Mütterchen nicht vorgelassen. Gott, es ist unvorstellbar, was für ein Pech wir haben. Als hätten sich alle Götter und Teufel gegen uns verschworen.

Ich habe schrecklichen Hunger, fühle eine furchtbare Leere im Magen. Ich sehne mich nach Brot. Ich würde, glaube ich, jetzt alles geben, um etwas in meinen Magen zu bekommen.

Wann werden wir wieder satt sein? Wann hört diese Qual auf? Wann werden wir wieder etwas Kräftiges, etwas Sättigendes essen, einen vollen Teller Brei oder Nudeln, mit flüssiger Nahrung kommt man nicht weit. Wir essen doch schon über einen Monat lang nur Flüssigkeiten. Nein, so zu leben ist undenkbar. Allmächtiger, wann endet denn endlich diese Qual! Und heute ist mein Feiertag, mein Geburtstag, den hat man nur einmal im Jahr. Ich weiß noch, Aka hat an diesem Tag immer Kuchen und Brezeln gebacken. Wir saßen um den Tisch herum, haben Tee getrunken, haben mit Wein angestoßen. Auf dem Tisch waren immer Bonbons, Piroggen und manchmal Torte, Wurst- und Käsebrote. An diesem Tag, vor allem in den letzten Jahren, hatten wir keine Gäste, aber wir haben zu dritt diesen Tag richtig schön gefeiert. Nein, ich werde den 21. November des Jahres 1941 niemals vergessen. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an diesen Tag erinnern. Am 21. November 1942 werde ich (falls ich noch am Leben sein werde) an diesen Tag denken, während ich mir eine riesige Scheibe dunkles Brot abschneide und dick mit Butter bestreiche, ich werde an diesen Tag denken, wie er vor einem Jahr, 1941, war…

… ich leider zusammen mit Hunderten und Millionen sowjetischer Bürger. Und warum? Wegen der Wahnideen dieses Psychopathen. Er hat beschlossen, die ganze Welt zu erobern. Das ist soo ein Irrsinn, und deshalb hungern und leider wir. Allmächtiger, wann hört das alles auf? Das muss doch irgendwann aufhören?

Aber es hört nicht auf. Der Winter ist unbarmherzig und die Versorgungslage verschlechtert sich weiter. Es hat nichts Heroisches, das Überleben in Leningrad. Es ist Brutalität pur. Schwarzmärkte entstehen, Haustiere werden gegessen, Ersatzlebensmittel wie Tischlerleim verzehrt. Und Lena, das 17-jährige Schulmädchen frohlockt, dass ihre alte Verwandte Aka, dank des geschlachteten Familienkaters etwas länger überlebt hat und somit noch Lebensmittelkarten für 10 Tage für sie und ihre Ziehmutter hinterlassen konnte…

 02.01.1942

So hat der Tod selbst eines so lieben Menschen wie Aka seine positiven Seiten. Wie sagt das Sprichwort: „Glück im Unglück.“…

Wie erstaunlich sich auch eins zum andern fügt. Wenn wir unseren Kater nicht geschlachtet hätten, wäre Aka früher gestorben, und wir hätten jetzt nicht die Marken übrig, die uns jetzt ihrerseits retten werden. Ja, unserem Katerchen vielen Dank. Er hat uns zehn Tage lang ernährt. Eine ganze Dekade haben wir mit nur dem Kater unsere Existenz gesichert.

 Aber auch das „Glück im Unglück“ währt nicht lange.

 08.02.1942

Gestern morgen ist Mama gestorben. Ich bin nun allein.

 Es ist ein sehr bewegendes Buch, das Tagebuch der Jelena Muchina. Oft wird sie mit Anne Frank verglichen und der Vergleich hat viel Wahres, hinkt aber auch an vielen Stellen. Anne und Jelena waren beide Opfer eines gezielten Völkermordes. Beide hofften auf ein Überleben und eine erfüllte Zukunft. Während Anne jedoch ihr Leben lassen musste, konnte Lena im Sommer 1942 evakuiert werden und überlebte bei Verwandten den furchtbaren Krieg. Ihre Hoffnung auf ein glückliches Leben erfüllte sich jedoch nicht. Sie musste sich mühsam, als Fabrikarbeiterin durch das Leben schlagen, heiratete nie und hatte keine Kinder. Sie war oft krank und starb relativ jung, mit 66 Jahren. Ich hätte ihr so sehr ein schönes Erwachsenenleben gewünscht.

lena-muchina-tagebuch

Die Zitate entstammen folgender Ausgabe:

Lena Muchina; Lenas Tagebuch; aus dem Russischen übersetzt und mit Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke, List Taschenbuch, Berlin 2014

4 Gedanken zu “21. November – Throwbackmonday mit Lena Muchina

      • Es ist immer etwas problematisch, das Leben eines anderen Menschen zu beurteilen. Wir können hoffen, daß sie die Aussicht auf ein besseres Leben nie aufgab, und ihr das vielleicht etwas Trost spendete. Es kann aber auch gut sein, daß wir uns selbst mit dieser Erklärung irgendwie trösten.

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