Never let me go

von Kazuro Ishiguro

Das Buch beginnt wie ein harmloser Internatsroman: Die 31-jährige Protagonistin Kathy schildert kurz ihre Karriere als Pflegerin und erzählt anschließend in Rückblenden von ihrer Kindheit in Hailsham, wo sie, inmitten einer lieblichen Hügellandschaft, gut behütet und von der rauen Umwelt abgeschirmt aufwuchs.

Die Kinder dort waren wie überall: es gab kleine Intrigen, Hänseleien, Tratsch und Klatsch, Cliquen und Liebespaare bildeten sich und lösten sich auf – all dies unter den aufmerksamen Blicken des Lehrpersonals. Es wurde Sport betrieben und die Schüler wurden zu künstlerischen Tätigkeiten angehalten.

Den Erinnerungen wohnt jedoch ein zwar schwer definierbarer, aber beklemmender Unterton inne. Die Idylle hinkt ein wenig und das von Anfang an. Immer wieder tauchen scheinbar deplatzierte Ausdrücke auf, wie Aufseher (statt Lehrer), Spender (fast als Berufsbezeichnung) und abschließen (als Ausdruck für den Tod). Die Kinder müssen besonders gut auf ihre Gesundheit achten und merken, dass sie in den Augen der Außenwelt etwas Abstoßendes darstellen. Sie sind jedoch wahre Meister der Verdrängung und leben ihren Alltag weiter, höflich und kultiviert, von düsteren Vorahnungen scheinbar unbehelligt.

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Für den Leser verdichtet sich jedoch die bedrückende Atmosphäre wie ein zäher, feuchter Nebel, bis man realisiert: es handelt sich bei all der Kultiviertheit nicht um ein normales Internat, sondern um eine Schule für Klone, die geschaffen wurden, um als menschliches Ersatzteillager zu dienen. Wir befinden uns in einem Paralleluniversum, in dem gezüchtete Organspender Teil des Gesundheitssystems sind. Diese Erkenntnis erreicht uns aber nicht als Schockmoment, sondern wächst langsam aus der Handlung heraus. Der Autor beschreibt sie so schlicht und unaufgeregt, dass sie eine sanfte, aber sehr suggestive Kraft entwickelt, man ist fast versucht, sie hinzunehmen.

Und genau das machen auch die Kinder. Sie wissen zwar, was auf sie zukommen wird und wenn sie das ihnen zugedachte Schicksal vielleicht auch nicht in seiner vollen Tragweite begreifen, so ist es doch schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich ihm beugen.

Als Kind habe ich einmal in einer Zeitschrift ein Interview mit einem Psychologen gelesen, das mich tief beeindruckt hat. Es ging dabei um die Fragestellung, zu welchem Zeitpunkt Adoptiveltern ihren Kindern erzählen sollen, dass sie adoptiert wurden. Gleich von Anbeginn an – lautete der Standpunkt des Psychologen. So erfährt das Kind die Wahrheit, bevor es weiß, was es wirklich bedeutet und man erspart ihm einen traumatisierenden Schockmoment. Man kann schon den Babys erzählen „Mami ist so glücklich, dich bekommen zu haben“ oder später Spaziergänge mit ihnen zum Waisenhaus machen „Siehst du, hier habe ich dich das erste Mal gesehen, weißt du, welche Freude dies für mich war?“. Bis das Kind versteht, was eine Adoption wirklich bedeutet, ist die Tatsache, ein Adoptivkind zu sein, natürlicher Teil seines Selbstverständnisses.

So ähnlich scheint es in Hailsham zu funktionieren. Die Schüler kennen nichts anderes, als ein Leben als Vorbereitung auf Organspenden und reagieren, wie alle Kinder, die sich vor unangenehmen Wahrheiten schützen möchten. Das Schreckliche wird verdrängt, sie verlieren sich in den Kleinigkeiten des Alltags und später, wenn sie älter werden, setzten sie den Abwehrmechanismus der Jugendlichen ein: sie machen sich lustig über die Zukunft.

Mit 16 verlassen sie das Internat und werden in Cottages untergebracht, wo sie sich, unterstützt von älteren Jugendlichen, dem Umgang mit der Außenwelt annähern, bevor sie ihrer Bestimmung zugeführt werden, zunächst als Betreuer für andere Spender zu arbeiten, um dann Stück für Stück ausgeweidet zur werden.

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Soweit, so schrecklich. Aber düstere Visionen haben mittlerweile – leider –eine lange Tradition in der Geschichte der Literatur. Sie alle beschwören ein brutales, menschenverachtendes Unterdrückungssystem herauf, um auf Fehlentwicklungen in der Gesellschaft hinzuweisen.

Was macht aber diesen Roman so außerordentlich beklemmend? Vergleicht man ihn mit 1984 oder Brave New World, so fällt ein großer Unterschied auf, eine ganz neue Qualität des Schreckens: In der von Ishiguro gezeichneten Welt fehlt jegliches Zeichen von Widerstand. Die Klone, die empfindsame, intelligente Wesen sind, mit Psyche, Charakter und Sehnsüchten, nehmen ihr Schicksal an und leben sanft dahin, als wären sie von einer unsichtbaren, tödlichen Krankheit gezeichnet. Sie dürfen sich sogar relativ frei bewegen, trotzdem kommt keiner auf die Idee, seinem Schicksal entkommen zu wollen. Es taucht zwar kurz die Überlegung auf, einen Aufschub zu erwirken, aber selbst dies alles vor dem Hintergrund, sich dem großen Gesamtbild, ein Organreservoir zu sein, zu fügen.

Darin liegt für mich die Meisterschaft von Ishiguro. Er beschreibt unaufgeregt, in einem fast schon poetischen Ton, diese Gesellschaft, in der Menschen als Ersatzteillager missbraucht werden. Zum größten Teil schildert er diese Welt aus der Perspektive der Opfer. Und ihr Umgang mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit ist von einer Passivität geprägt, die an Schmerz nicht zu überbieten ist. „Warum wehren sie sich nicht?“, fragte mich meine 15jährige Tochter, „Warum laufen sie nicht weg, verstecken sie sich nicht?“. Und die Antwort auf diese Fragen ist eine für uns unvorstellbare, totale psychische oder physische Unterdrückung, die im Buch jedoch nicht beschrieben, sondern lediglich durch das Ergebnis angedeutet wird. Das macht diesen Roman für mich noch viel angsteinflößender als jene der Vorgänger, in denen zumindest Einzelne die Kraft und die geistige Freiheit aufbrachten zu revoltieren.

Ich sehe meine Tochter an und denke mir mit Dankbarkeit, wie privilegiert sie ist, dass sie sich nicht einmal vorstellen kann, wie es ist, dermaßen unterdrückt zu werden, dass man nicht mehr die Möglichkeit oder die Kraft besitzt, sich aufzulehnen.

Kann man diesen Schrecken, diese enthemmte Unmenschlichkeit noch steigern? Der Autor schafft es, indem er gegen Ende des Buches einen Schockmoment platzen lässt: Wir erfahren, dass das Leben unserer Protagonisten, das wir für die unerträgliche Spitze brutalster Menschenverachtung halten, eigentlich ein Abgesang an die gute, alte, zivilisierte Welt ist. Dass Tommy, Ruth und Kathy zu den letzten „privilegierten“ Klonen gehören. Sie wurden noch in Schulen erzogen, in denen ihre Lehrer versuchten, zu beweisen, „dass sie überhaupt eine Seele“ hatten. Sie wurden, soweit es ging, beschützt vor der Realität. Man hat ihnen trotz der unmenschlichen Rolle, die ihnen zugedacht wurde, eine Kindheit geschenkt – eine Schulzeit, die ihnen ihr kurzes, tragisches Leben hindurch als Ankerpunkt, als Ort der Sehnsucht dienen konnte. Sie können noch lieben, sind empathisch und phantasievoll, sie beschäftigen sich mit Literatur und Malerei, regeln ihre Konflikte behutsam und umsichtig. So viel „Humanität“ ist für die nachkommenden Generationen an Klonen nicht mehr zugedacht. Eine klassische Kindheit dürfen sie nicht mehr haben denn die Gesellschaft hat kein Interesse daran, sich vor Augen zu führen, dass sie auch Menschen mit Geist und Seele sind.

Was bleibt? Eine Liebe, die sich nicht mehr entfalten kann. 2 der 3 Protagonisten sterben nach 2 bzw. 4 Spenden. Und Kathy, die Dritte im Bunde, muss noch ein halbes Jahr als Betreuerin arbeiten, denkt jedoch schon mit Sehnsucht an die kommende Zeit, in der sie ihr Leben „in Ruhe“ als Spenderin zu Ende führen kann…

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Nachtrag:

Ich habe das Buch gleich in der Originalversion gelesen, denn Ishiguros Sprache besitzt eine schlichte Poetik, die ich ungern missen wollte. Ob die deutsche Übersetzung gelungen ist, kann ich daher nicht sagen, die etwas unbeholfene Übertragung des Titels (Alles, was wir geben mussten) verheißt jedoch nichts Gutes.

Der Roman wurde auch verfilmt, und die filmische Version schafft es durchaus, wenn auch verkürzt und etwas abgeändert, die atmosphärische Dichte wiederzugeben. Empfehlung.

Fotos: © DNA Films Film 4 / Fox Searchlight Pictures

 

 

8 Gedanken zu “Never let me go

  1. Seitdem ich kürzlich „Was vom Tage übrigblieb“ las, ist Kazuo Ishiguro einer der wenigen Autoren, deren Gesamtwerk ich gern lesen möchte. Mich berührt diese unglaubliche Zuneigung, die er für seine Charaktere empfindet. „Alles, was wir geben mussten“ (der deutsche Titel ist wirklich von absoluter Holzhammersensibilität) scheint dieses seltene Qualitätsmerkmal ebenfalls zu besitzen. Danke für deine schöne Besprechung.

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    • Mir gefällt es, welche Empathie seine Hauptdarstellerin ausstrahlt. Obwohl die Geschichte nur aus ihrer Perspektive erzählt wird, geht sie dermaßen intensiv auf die Gefühle ihrer Freunde, ihrer Lehrerinnen oder überhaupt der Außenwelt ein, dass die Standpunkte aller dargestellt werden. ich freue mich schon auf „Was vom Tage übrig blieb!“

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  2. Pingback: Shelfie 2016 |

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