… und andere Geheimnisse, die in Reiseführern nur selten gelüftet werden.
Es ist der Anfang der 1860-er Jahre. Der Sezessionkrieg wütet. Große Teile von Amerika sind verwüstet. Auch die New Yorker verbrauchen
166 Tonnen Schießpulver
– in ihrer Stadt. Aber was sie wohl damit machen? Niemand hat von einem Einmarsch konföderierter Truppen gehört. Die Antwort ist ein wenig überraschend. Das Schießpulver wird nicht bei Kampfhandlungen eingesetzt – sondern beim Bau einer riesigen Parkanlage! Diese wird errichtet, damit die Bevölkerung nicht auf Friedhöfe ausweichen muss, wenn sie ein wenig Frischluft schnappen möchte. Neben diesem philanthropischen Ansatz spielen aber auch andere Aspekte eine Rolle: Ein Park erhöht den Wert der umliegenden Gebiete, er steigert das Prestige der Stadt, generiert neue Arbeitsplätze und bringt politischen Nutzen. Sonst wäre es unvorstellbar, dass man eine Grünfläche für Erholungszwecke opfert, die (bei moderner Bauweise) etwa 16 Millionen Wohnungen beherbergen könnte!
Man entscheidet sich für ein 280 ha großes Gebiet zwischen 59. und 106 Straße, das nach den Plänen von Law Olmsted und Calvert Vaux umgestaltet werden soll. Die beiden Landschaftsarchitekten können sich mit ihren Plänen bei einer heiß umkämpften Ausschreibung durchsetzen: den Sieg bringt ihnen ihre revolutionäre Idee, mit abgesenkten Verbindungsstraßen zu arbeiten. Diese sind notwendig, da es nicht möglich wäre, Verbindungen im damals schon verkehrsreichen Manhattan auf 4 km Länge (so groß ist der Park) zu kappen. Da es aber ebenso wenig reizvoll wäre, einen Erholungspark zu haben, durch den zahlreiche Verkehrswege hindurchführen, ist die Idee, diese abzusenken, die perfekte Lösung für eine Oase der Erholung mitten in der Großstadt.
Olmsted und Vaux sind die Verfechter einer möglichst natürlichen Landschaftsarchitektur: sie möchten auf architektonische Strukturen, Denkmäler und Skulpturen weitgehend verzichten. Trotzdem erhält der Park im Laufe der Zeit berühmte Bauten: Belvedere Castle, einen viktorianischen Phantasiebau; das Delacorte Theater; die Bethesda-Terrasse und Fontäne; die Meierei (Central Park Dairy) etc.
Was aber war die teuerste Konstruktion im Central Park?
Die Antwort überrauscht ein wenig: das meiste Geld haben nicht etwa Belvedere Castle oder Delacorte Theater, sondern die Errichtung der Sheep Meadow gekostet, jener gar nicht so natürlichen 60.000 m² großen Wiese, auf der Jahr für Jahr Millionen New Yorker und Touristen gemütliche Sonnenstunden verbringen.
Das ursprünglich von Felsen übersäte Sumpfland wurde unter dem Einsatz von viel Schießpulver vom Gestein befreit, 60 cm hoch mit Erde aufgefüllt und anschließend begrünt. Die bukolische Stimmung sollte von einer Schafsweide abgerundet werden – der Hirte lebte in einem nahegelegenen Gebäude, das heute unter dem Namen Tavern on the Green als Restaurant bekannt ist. Bis 1934 gab es die perfekte Schafsidylle, die später jedoch durch eine Krise kulinarischer Natur unterbrochen wurde. Die Massenverelendung der 30-er Jahre trieb viele verarmte Mitbürger in den Park, die hin und wieder auf den Schafsbestand zurückgriffen, um ihren Hunger zu stillen. Die Vorfälle häuften sich dermaßen, dass die Schafe aus Sicherheitsgründen nach Brooklyn ausgesiedelt werden mussten.
Aber auch der Park selber wurde im Laufe der Wirtschaftskrise
ein Fall für Charity
und selbst während des starken Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Armut zu, sodass Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Prostitution den Alltag des Parks und Raubüberfälle die Nächte prägten. Die Rezession in den 1970-er tat das Übrige: der Central Park wurde zunehmend vernachlässigt und verkam dermaßen, dass Bürgermeister Ed Koch sogar Überlegungen anstellte, ihn zu schließen – kein Ruhmesblatt für die Stadtregierung.
1980 wurde daher eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet. Die Central Park Conservancy wird hauptsächlich von New Yorker Banken und Unternehmen gefördert und steuert mittlerweile gut 85% des Park-Budgets bei. Ihre Mitarbeiter pflanzen Blumenzwiebeln, pflegen Wälder, Wiesen, Seen, über 9.000 (zum größten Teil gesponserte) Bänke, 26 Spielplätze und – eine Spitzenleistung – entfernen Graffiti und Kritzeleien aller Art innerhalb von 24 Stunden.
Auch Künstler engagieren sich für den Park: Simon & Garfunkel gaben 1981 ein umjubeltes Benefiz-Konzert vor mehr als 500.000 Zuschauern. Und die Spendenbereitschaft hält auch seither an: so erhielt die Foundation aus der Stiftung Paulsons eine Einzelspende von 100 Millionen Dollar – ein absoluter Rekordwert.
So geht es mit dem Park wieder aufwärts. Mittlerweile gehört er zu den sicheren Orten und die bis zu 500.000 Menschen, die ihn täglich besuchen, benehmen sich größtenteils auch recht artig.
Aber vielleicht wäre es gar nicht zum Sittenverfall im vorigen Jahrhundert gekommen, hätten die Prostituierten, Taschendiebe und Konsorten, die ihren Geschäften mit Vorliebe in der Gegend um die Mall nachgingen, gewusst, was diese breit angelegte Allee wirklich darstellt. Sie ist nämlich viel mehr als eine Promenade, auf der es sich, beschattet von großen Ulmen, bequem flanieren, Kunstwerke und andere Waren feilbieten oder Diebstähle begehen lässt.
The Mall ist
eine Kathedrale
mitten im Park, fernen gotischen Vorbildern nachempfunden. Die Promenade bildet das Hauptschiff, mit den mächtigen Ulmen als Säulen, deren Kronen sie in einem fein gearbeiteten Spitzbogen einfassen.
Links und rechts weitere Säulengänge (Seitenschiffe) aus Ulmen, deren Blätter das Sonnenlicht wie herrlich bemalte Glasfenster filtern. Die Promenade – bzw. das Hauptschiff – mündet in das Querschiff, man schreitet anschließend durch das etwas mystische, abgesenkte (und ironischerweise orientale) Chorgestühl ins Freie auf einen Platz voll Licht und Sonne, zu einem herrlichen Hochaltar, dem Bethesda-Brunnen. An der Spitze des Brunnens thront ein Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln, der mit einer Lilie in der Hand das Wasser segnet. 4 kleinere Figuren symbolisieren Gesundheit, Frieden, Mäßigung und Reinheit – Tugenden, die die Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach einer verheerenden Choleraepidemie wirklich brauchen konnte. Die Vollendung eines Aquädukts, der New York mit sauberem Wasser aus dem Croton Stausee versorgte, verhieß all diese Segnungen und wurde mit dem für New York so ungewohnt sakralen Bethesda Brunnen gefeiert. Der Brunnen bildet den Höhepunkt der geheimnisvollen Kathedrale – und dies mit einem Augenzwinkern. Die Bildhauerin Emma Stebbins, die während ihres Studiums in Rom mit dem Gedankengut des frühen Feminismus in Berührung kam und zu den ersten Frauen gehörte, die sich offen zu ihrer lesbischen Beziehung bekannten, versah den Engel an der Spitze des Brunnens nämlich mit eindeutig femininen Zügen – was ebenso unerhört war, wie ein sakrales Denkmal mitten in der so bewusst säkularen Stadt New York, wo es sonst nur historische Persönlichkeiten, meist gestandene Männer, zu Statuen brachten.
Und wenn wir schon bei historischen Persönlichkeiten angelangt sind, möchte ich noch ein letztes Geheimnis lüften, nämlich jenes über den
berühmtesten Anrainer
des Central Park. Er residiert, absolut vornehm, an einer der teuersten Adressen: Fifth Avenue und 74. Straße, 12. Stock. Während seines langen Lebens hatte er zahlreiche Lebensabschnittspartnerinnen und wurde stolze 23-mal Vater. Die Rede ist von Pale Male, dem Falken, der, 1991 in Manhattan angekommen, den Central Park zu seinem Jagdrevier gemacht und eine wunderbare Co-Existenz von Wildnis und Zivilisation etabliert hat. Wobei das moderne Märchen vom Luxusfalken auch Schattenseiten aufweist: Pale Male und seine langjährige Gefährtin Lola wurden nämlich im Dezember 2004 delogiert – ihre mangelnde Tischmanieren, immer wieder blutige Kadaver (meist Ratten oder Tauben) aus ihrem Nest auf die Straße fallen zu lassen, hat den Unmut der Gebäudeverwaltung erregt. Zum Glück fanden sie aber zahlreiche prominente Unterstützer, die sich für einen Verbleib des Falkenpärchens stark machten – so wurde bald ein neues Nest für sie errichtet, mit einer Vorrichtung, die verhindert, dass ihre Essensreste das Erscheinungsbild der noblen Umgebung verschandelten. Lola ist leider einige Jahre später verstorben. Pale Male bewohnt aber nach wie vor sein vornehmes Domizil, mit wechselndem Partnerglück – begleitet von Lima, Paula, Zena und Octavia. Nach mittlerweile 25 Jahren gehört er wohl zu den etablierten Anrainern und ich bin mir sicher, dass er auch einige spannende Geheimnisse über den Central Park erzählen könnte.
© Pale Male: PBS Nature
Pale Male der Schwerenöter! Aber bei der Adresse werden ihm die Damen der Lüfte zu Füßen liegen…
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Sehr interessanter Bericht von dir, klasse. LG Joe
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Danke! Ich mag deine Sepia Fotos!
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Wow, das ist echt spannend zu lesen! Gerade, wenn man da schon das ein oder andere Mal war 🙂 DAnke für den Bericht! Lg, Miriam
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Danke schön!
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Wunderschön, besonders Dein Vergleich mit einer Kathedrale, und der Bericht über die Falken.
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Danke schön Tanja! Mein Ziel war es, Aspekte des Central Parks zu zeigen, die man normal nicht in Reiseführern findet.
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Das ist Dir gelungen! Ich war schon lange nicht mehr im Central Park, und hatte damals nicht genügend Zeit. Ich glaube man könnte leicht eine Woche dort verbringen.
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Das würde ich auch gerne tun!
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