Olympia, mon amour?

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Kaum ist die Fußball-EM vorbei, steht uns schon das nächste Megaereignis bevor: die XXXI. Olympischen Spiele. Ronaldos Motte hatte ihre 15 Minuten Ruhm, die Welt wendet sich neuen Helden zu.

Hier muss ich gleich eingestehen dass ich kein Fan der Spiele bin: geschundener Sportler, Gesundheitsschäden, Doping-Skandale, nationale Egoismen und das Konzept der vielen Verlierer ließen mein Herz noch nie höher schlagen. Grab ich aber tiefer, höre ich ein leises Pochen – könnte es doch Liebe sein?

10,5 Tausend Sportler gemeinsam unterwegs, ein Kräftemessen endlich abseits von Schlachtfeldern, ein Weltereignis mit unvorstellbarem Energieüberfluss: mit Spitzenleistungen, die an sich keinen Sinn ergeben, für die sich aber trotzdem Milliarden begeistern. Was für ein Luxus für die Menschheit.

Als ich ein Kind war, war mir dieses Megaevent egal. Meine Bewunderung galt dem historischen Vorbild,

Olympia

dem großen Fest zu Ehren Zeus, dem Ort an dem es fast schon möglich war, das Göttliche in Reichweite des Menschen vorzustellen.

Dort versammelten sich alle 4 Jahre die Besten Sportler aus Stadtstaaten und Kolonien, um sich in Fünfkampf, Laufbewerben, Kampfdisziplinen und Pferdewettkämpfen zu messen – so weit, so martialisch. Zeus wiederum galten die Opfergaben und die musischen Bewerbe. Die Olympischen Spiele wurden zum beliebtesten Fest: mehr als 40 Tausend Zuschauer bevölkerten Spielstätten und Gelände.

Der göttliche Glanz darf uns aber nicht täuschen – die Umstände, unter denen das frühe Festivalvolk hauste, waren erbärmlich, Woodstock oder gar Nova Rock müssten im Vergleich dazu als Hygiene-Hochburgen erscheinen.

Die Zuschauer zelteten in der prallen Sonne. Sanitäre Anlagen gab es keine und der bestialische Gestank von menschlichen Ausdünstungen, Exkrementen und Tieropfern verpestete die Luft. Manch göttliche Verordnung verschlimmerte die Situation: so durften Tieropfer nicht gegessen werden – das Fleisch verweste tonnenweise in der sengenden Hitze. Nicht umsonst wurde widerspenstigen Sklaven oft gedroht, bei anhaltendem Fehlverhalten zu den Olympischen Spielen mitgenommen zu werden.

Auch im Punkto Kleidung gab es fragwürdige Erlässe: Die Sportler mussten nackt antreten. Die Zuschauer durften zwar ihre Kleidung behalten, es war ihnen aber untersagt, eine Kopfbedeckung zu tragen. So starb der große Thales von Milet an Hitze und Durst bei den 58. Olympischen Spielen. Ich trauerte ehrlich um ihn, obschon   mir sein Thaleskreis samt Kreiswinkelsatz manch bittere Stunden bereitet hatten.

Wie dem auch sei. Selbst wenn sie keine Wellness-Tempel waren, liebten die Griechen ihre Spiele. Sie liebten sie so sehr, dass sie diese sogar 480 v. Chr. feierten, trotz höchster Not, als Sparta zur gleichen Zeit mit letzten Kräften versuchte, den Engpass der Thermopylen gegen die Übermacht der Perser zu verteidigen.

Dieses Muster wiederholte sich später. Obwohl die Spiele, gerade nach der Neueinführung in 1896, zum friedlichen Miteinander und zur internationalen Verständigung beitragen sollten, kam es immer wieder vor, dass sie zwar abgehalten aber von den langen Schatten der

Politik

eingeholt wurden.

So wurde die Austragung der VI. Olympischen Spiele nach Berlin vergeben. Diese hätten 1916 stattfinden sollen, fielen aber dem ersten Weltkrieg zum Opfer. Vielleicht war Berlin ein schlechtes Omen, die IOC-Herren aber anscheinend nicht abergläubisch, denn die Stadt erhielt eine erneute Zusage, diesmal für 1936. Nun die 36-er Spiele mussten zwar keinem erneuten Weltkrieg weichen, standen aber deutlich in dessen Vorzeichen. Sie erzielten zwar einen Teilnehmer- und Besucherrekord, gingen aber als skandalträchtigste Veranstaltung in die Annalen ein, da das Nazi-Regime sie rücksichtslos für Propagandazwecke  missbrauchte. Immerhin musste Hitler mitansehen, wie der schwarze Athlet Jesse Owens 4 Goldmedaillen gewann.

Aber auch das konnte den Weltkrieg nicht aufhalten und 20 Jahre später kämpfte man immer noch mit dessen Spätfolgen – die Welt war gespalten.

Mutig aber mit wenig Aussicht auf Erfolg versuchte 1956 Ungarn, sich aus dem Würgegriff des Sowjetkommunismus zu befreien. Kurz nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand kam es bei den XVI. Olympischen Spielen zum berüchtigten Blutspiel von Melbourne. Wasserball war noch nie ein Spiel für Zimperliche, der Großteil der gegenseitigen Brutalitäten erfolgt jedoch zumeist diskret unter Wasser und bleibt somit, bei fachkundiger Ausführung, der Allgemeinheit verborgen. Bei diesem Spiel wurde jedoch bereits nach einigen Minuten ein Spieler gesperrt, wenig später waren im Becken Blutspuren zu sehen und als eine Minute vor Schluss eine schlimme Gesichtsverletzung sichtbar wurde, musste das Spiel abgebrochen worden. Kein Ruhmesblatt der Völkerverständigung.

Auch die darauf folgenden Jahre und Jahrzehnte wurden immer wieder vor Tragödien, Terroranschlägen, Vorwürfen und Boykottaufrufen überschattet – der kalte Krieg nahm an Intensität zu. Olympia tat was sie konnte – aber der Krieg ist manchmal eben kälter.

Daher…

Lasset uns lieber ein Feuer entfachen!

Zu den schönsten Symbolen Olympischen Gedankengutes gehört das Olympische Feuer. Dieses wurde das erste Mal 1928 in Amsterdam entzündet. Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Symbol zu einem komplexen Ritual: bereits einige Monate vor Beginn der Spiele wird in Olympia die olympische Fackel entfacht und von Staffelläufern zum Austragungsort der Spiele gebracht. Die Flamme brennt während der gesamten Veranstaltung.

Das riesige Feuer ist sehr beeindruckend aber brandschutztechnisch nicht ganz unbedenklich. Dies mussten einige Tauben am eigenen Leib erfahren. In Seoul wurden 1200 als Friedenssymbole freigelassen, manche schafften es aber nicht hoch genug und fielen den Flammen zum Opfer. Die gerösteten Tauben konnten sich als Friedenssymbol nicht etablieren – seither verzichtet man auf diesen feierlichen Akt.

Dabei hatten die Tauben von Seoul noch eine halbwegs faire Chance. Nicht so wie ihre fernen Verwandten, die, 300 an der Zahl, 1900 in Paris, im Bewerb „Taubenschießen“ als lebende Zielscheiben herhalten und fast ausnahmslos ihr Leben lassen mussten. Diese Disziplin wurde später aus dem Programm genommen und gehört somit zu den wenigen Bewerben, bei denen man zwar den Einfallsreichtum der Organisatoren bewundert, sich aber trotzdem die schlichte Frage stellen muss:

Geht´s noch?

Knapp nach der Wiedereinführung der Spiele um die Jahrhundertwende versuchten die Veranstalter alles, um große Massen für die Spiele zu begeistern. Der Kreativität keine Grenzen gesetzt, kam es somit zu manch wilden Blüten.

So veranstaltete Athen 1896 eine eigene Schwimmdisziplin für Matrosen.

Paris ließ 1900, ein wenig undurchsichtig, zahlreiche Show-Bewerbe im Dunstkreis der Olympia abhalten, sodass nicht immer klar war, ob man nun in- oder außerhalb der symbolträchtigen Spiele kämpfte. Neben dem fragwürdigen Taubenschießen gab es auch Hoch- und Weitsprung für Pferde, Hindernisschwimmen in der Seine sowie den Bewerb „Kanonenschießen“. Bei letzterem werden sich so manche gefragt haben, welcher Aspekt der Völkerverständigung als Inspiration gedient haben soll.

St. Louis 1904 zeigte sich wiederum sehr familienfreundlich. Neben den klassischen Bewerben standen Sackhüpfen, Tonnenspringen und Tauziehen auf dem Programm – abgerundet von der erzieherisch eher weniger wertvollen Diziplin des Tabak-Weitspuckens – aber auch Väter müssen auf ihre Kosten kommen. Tauziehen blieb übrigens bis 1920 im Programm erhalten.

Gemäß dem hellenistischen Vorbild wollte man auch auf

 

Kunstbewerbe

nicht verzichten. Die Olympischen Spiele sollten nicht nur der körperlichen Ertüchtigung huldigen, sondern auch für Geist und Seele Raum zur Entfaltung bieten.

Von 1912 bis 1948 konnte man Werke im Bereich Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei einreichen, sofern diese vom Sport inspiriert wurden.

Der Jury gehörten zum Teil wirklich prominente Künstler an. Im Bereich Musik z.B. Ravel, Stravinsky oder Bartok – eine unlaubliche Chance für angehende oder selbsternannte Künstler, ihre Werke von solchen Genies bewerten zu lassen!

Die Sparte Kunst entwickelte sich, nach einem bescheidenen Start, wirklich rasch. Während 1924 bloß 193 Werke zu begutachten waren, erreichte deren Zahl 1928 allein in der Malerei und Bildhauerei rund 1100.

Die Jury hatte also viel zu tun: man stelle sich vor, wie viele „Oden an den Sport“ gelesen werden mussten. Immerhin durfte deren Länge 20.000 Wörter nicht überschreiten. Es gab auch Organisatoren, die sich mit einer Zusammenfassung begnügten – wahrscheinlich zum Schutz der Jury!

Aber, so schwer es manchmal auch für die Kunstjury war, am härtesten mussten immer noch die Sportler schuften.

In seinem berühmten

Blut Schweiß und Tränen

Rede hat der legendäre Winston Churchill zwar nicht von olympischen Athleten gesprochen, seine Worte trafen aber auch auf deren Situation zu. Sie hatten nicht nur im Training Alles zu geben, sondern auch im Bewerb so Einiges ertragen müssen.

So haben die Schwimmer 1896 in Athen ihre Disziplinen in der Bucht von Zea bei eiskaltem 13°C absolviert – Schwimmhallen waren noch Mangelware.

Noch schlimmer erging es ihren Kollegen 4 Jahre später. Beim Hindernisschwimmen in Paris mussten sie nicht nur über Boote klettern und unter Schiffen hindurch tauchen – die eigentliche Herausforderung war die Seine, in der all dies stattfand – der Fluss, in den die Pariser zur Jahrhundertwende gerne noch Notdurft und Abfälle pumpten. Da bekommt das Wort „Hindernis“ gleich eine noch finstere Bedeutung!

Mit Hindernissen anderer Arte hatte die Judokämpferin Debbie Allan in Sydney zu kämpfen. Zwar hungerte sie brav, um in der begehrten Gewichtsklasse 48-52 kg starten zu dürfen. Allein die Waage blieb unerbittlich und zeigte nicht den gewünschten Wert. Da schwitzte sie 3 lange Stunden und ließ sich sogar ihr Haar abschneiden – und als die Waage immer noch streikte, zog sie sich sogar nackt aus. Aber nichts half, die Waage blieb unerbittlich und so musste sie ihren Traum wegen 50g „Übergewicht“ aufgeben. Irgendwie auch symbolisch: die kleinen Gemeinheiten der Waage als ewiger Feind der Frauen.

Nicht ein Problem sondern gleich 2 ließen die Olympiaträume des Südafrikaners Len Tau in St. Louis platzen. Der Marathonläufer wurde von 2 gehässigen Hunden verfolgt, sodass er sich kurzerhand in ein Weizenfeld retten musste. Groopiealarm in einer gefährlichen Dimension, der ihn vielleicht schneller laufen ließ, ihm aber wegen des Umweges wertvolle Minuten und somit eine Top-Platzierung kostete.

Ohne Hunde und sogar ohne Schuhe absolvierte dafür der Äthiopier Abebbe Bikila in Rom 1960 die beste Marathonzeit. Er musste kurzfristig für seinen verletzten Landsmann einspringen – Zeit, seine abgewälzten Laufschuhe zu ersetzen, war wohl nicht mehr drinnen. Die Gewohnheit, zu siegen, behielt er bei – so übernahm er 4 Jahre später auch in Tokio die Goldmedaille – diesmal aber in perfektem Schuhwerk.

Schließlich seien noch 2 Ringer erwähnt, die 1912 in Stockholm nicht nur gegen einander sondern auch gegen die Mängel eines wenig ausgefeilten Regelwerkes zu kämpfen hatten. Der Este Klein und der Finne Asikainen mühten sich 10 Stunden und 15 Minuten ab, bis der erschöpfte Richter den Bewerb abbrach. Es wurde zwar kein Sieger gekürt aber in meinem Herzen bleiben sie beide die ewigen Herren der Ringe!

Dabei sein ist alles!

Der unerbittliche Kampf ist aber nicht jedermanns Sache. Die ganz coolen bekamen es nicht einmal mit, wenn sie eine Medaille gewannen. Der Australier Donald Macintosh hat z.B. 1900 die Weltausstellung in Paris besucht und aus Jux 200 Francs bezahlt, um ein Paar Vögel abschießen zu dürfen. Bis zu seinem Tod erfuhr er nicht, dass er am berüchtigten Olympischen Wettbewerb teilgenommen und, zusammen mit einem US-Amerikaner, den 3 Platz erreicht hatte.

Fast ähnlich unvermutet kam in Sydney Eric Moussambani, „Eric der Aal“ zu seinem Gold. Er trat als Freistilschwimmer an und vertrat Äquatorialguinea, ein Land, in dem man lediglich in Flüssen oder in einem 20m Becken trainieren konnte. Allzu viele Längen kann er nicht absolviert haben, hat er doch erst 8 Monate zuvor überhaupt schwimmen gelernt. Ob er nervös war, als er das erste Mal am Rand eines Olympischen Beckens stand? Seine Kontrahenten müssen es gewesen sein: beide wurden wegen Fehlstarts disqualifiziert. Trotzdem machte es sich Eric nicht leicht: er verausgabte sich dermaßen, dass besorgte Zuschauer ihn auf den letzten Metern schon vor dem Ertrinken retten wollten. Er schwamm dabei sowohl persönliche als auch nationale Bestzeit – die Goldmedaille wird ihn darüber hinweggetröstet haben, dass er damit immer noch um gute 100% über dem Weltrekord blieb.

Die schlechteste Zeit aller Bewerbe hat aber ein Anderer für sich gepachtet. Der Marathonläufer Kanaguri Shiso war unter den ersten Athleten, die Japan bei den Olympischen Spielen vertreten durften. Nicht nur die Vorbereitung gestaltete sich schweißtreibend. Die Anreise musste durch Spenden finanziert werden und dauerte 18 anstrengende Tage, sodass der erschöpfte Sportler ausruhen musste, bevor er sein Training wieder aufnehmen konnte. Der Tag des Bewerbes war extrem heiß (ein Portugiese brach sogar zusammen und verstarb am nächsten Tag). Nicht so Shiso. Unterwegs durch einen Stockholmer Vorort ließ er sich von einer Familie auf ein Getränk einladen – um anschließend einzuschlafen und erst am nächsten Morgen wieder wach zu werden. Als ich die Geschichte das erste Mal hörte, stocke mir das Herz: Das ausgeprägte Ehrgefühl der Japaner kennend, malte ich mir schon die Details seines obligatorischen Harakiris aus: denn man schläft nicht so einfach ein, wenn man den japanischen Kaiser vertritt! Nun ja, ein Triumphzug war es nicht, der ihn nach Haus brachte – aber immerhin schaffte er es nach Japan, legte eine erfolgreiche Sportlerlaufbahn hin und kehrte 1967 nach Stockholm zurück, wo er, 75-Jährig, seinen Lauf dort fortsetzte, wo er 1912 das verhängnisvolle Getränk zu sich nahm.

Seine legendäre Zeit betrug 54 Jahre, 8 Monate, 6 Tage, 3 Stunden, 32 Minuten und 20,3 Sekunden. Dabeisein ist eben doch wohl alles.

Aber der olympische Traum lebt vom Ehrgeiz. Diesen besaß der deutsche Fritz Traun wie kein Anderer. Er versuchte sich 1896 im 800-Meter-Lauf. Nachdem er hier ziemlich abgestunken hatte, sattelte er kurzentschlossen auf Tennis um, kaufte sich einen Schläger, suchte einen Partner und siegte mit dem Iren John Pius Roland im Doppel.

So verhalf er der Völkerverständigung doch noch zum Triumph.

Und wenn Olympia solche Geschichten schreibt, muss man sie irgendwie doch noch lieb haben. Herz, du hast Recht: Lasset die Spiele beginnen!

4 Gedanken zu “Olympia, mon amour?

  1. Ich glaube einer der Gründe, warum wir als objektive Zuschauer noch immer die olympischen Spiele verfolgen, ist tatsächlich die Sehnsucht nach Völkerverständigung. Oder vielleicht appelliert das nur an meine Naivität, die sich weigert, die Realität so hinzunehmen, wie sie ist.
    Beim Sackhüpfen hätte ich übrigens wahnsinnig gerne mitgemacht! 😊

    Gefällt 1 Person

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